Herr Gerhard, der Gerichtstourist

Zum letzten Mal 2007 in Moabit – Begegnung mit einem »Prozessbeteiligten«

  • Peter Kirschey
  • Lesedauer: 3 Min.

»Um sich in dem Labyrinth von Korridoren, Treppen und Seitengängen zurecht zu finden, wird es eines längeren Studiums bedürfen«, schrieb vor 102 Jahren die »Norddeutsche Allgemeine Zeitung« über das Kriminalgericht in Moabit, der größten Aburteilungsfabrik in Europa. Inzwischen sind weitere Anbauten hinzugekommen, die Suche nach einem bestimmten Ort ist noch viel komplizierter geworden.

Für Herrn Gerhard, schätzungsweise im Alter zwischen 60 und 70 Jahren, ist das kein Problem. Er kennt die Abzweigungen, Nebengänge und Wendeltreppen wie kaum ein anderer. Seit 17 Jahren ist Herr Gerhard dabei – als Gerichtstourist. Er kommt nicht mehr davon los, es ist ein lieb gewordenes Hobby, auf den harten Bänken zu sitzen und stundenlang zuzuhören. »Andere gehen in die Kneipe oder sitzen vor dem Fernseher, ich gehe zum Gericht. Hier ist es spannender als in jedem Film.«

Gestern war es gespenstisch ruhig auf den Wandelgängen. Wo sonst Tausende dienstbeflissene Angestellte und Beamte durch das Haus wuseln, wo tonnenweise Akten mit Handkarren hin und her kutschiert werden, war gähnende Leere. Wer dennoch in das Gebäude wollte, wurde vom Eingangspersonal mit gewissem Misstrauen beäugt. Wer geht schon an solch einem Tage – und dazu noch freiwillig – zum Gericht? Herr Gerhard.

Bei fast allen Prozessen gegen DDR-Grenzsoldaten oder bei den Tribunalen gegen die DDR-Führung saß er auf den Zuhörerbänken, stand vorher oft stundenlang im Freien an, um einen Platz zu ergattern und debattierte in den Pausen mit. Nachdem die juristische Abrechnung mit der DDR aus Mangel an Angeklagten ein Ende fand, suchte sich Gerhard neue Beobachtungsfelder. So geht er meist zu Fällen mit einem gewalttätigen Hintergrund. Nur ein Prozess war für den gestrigen Freitag am Brett angekündigt. Schwere räuberische Erpressung lautet der Vorwurf.

Aufruf der Prozessbeteiligten mit zehnminütiger Verspätung, dann eintreten, das Gericht erscheint, alle erheben sich von den Plätzen. Im Saal herrscht Stille. Ein immer wiederkehrendes Ritual. Zwischenrufe, Debatten oder Beschimpfungen gibt es nur im Fernsehen. Die Anklage wird verlesen, der Angeklagte darf sich zu den Vorwürfen äußern, muss es aber nicht. Nicht so gestern. Nach Verlesung der Anklage war Feierabend. Auch die hohen Gerichte wollen den Jahreswechsel sanft ausklingen lassen und nicht noch einmal zu einem gewaltigen Hieb für die Gerechtigkeit ausholen.

Verhandlungen sind in der Regel für Jedermann zugänglich, das Gesetz schreibt es so vor, damit nicht hinter verschlossenen Türen neues Unrecht geschieht. »Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil...«, so beginnt jede Strafverkündung, ganz gleich, ob bei Mord oder Schwarzfahren. »Ich bin auch einer, in dessen Namen geurteilt wird«, sagt der Rentner. Er ist nicht mit allen Urteilen einverstanden. »Gewalt müsste härter bestraft werden. Dazu sind keine neuen Gesetze erforderlich. Das Gericht hat die Möglichkeit, Gewalttäter entschlossener zur Verantwortung zu ziehen.«

Gerhard nimmt Anteil am Schicksal der Opfer und der Täter. »Es gibt kein Schwarz-Weiß-Schema. Man muss immer genau hinsehen, um zu urteilen oder zu verurteilen«, sagt er weise.

Gezählt werden sie nicht, die Justiz-Touristen, die ganz ohne Zwang den ganzen Tag im Moabiter Kriminalgericht verbringen, in der Kantine Rechtsanwälte, Richter und Staatsanwälte in trauter Runde zusammensitzen sehen, während sie sich im Gerichtssaal erbitterte Schlachten liefern. Ein paar Hundert werden es schon sein, die Tag für Tag nach Moabit pilgern, um teilzuhaben am Elend der Anderen. Auf jeden Angeklagten kommen zehn bis 20 Prozessbeteiligte, zumeist aber aus dem Umfeld der Täter oder der Opfer. Schulklassen sind dabei, um Recht und Gerechtigkeit lebensnah zu erleben. Ob so eine Verhandlung tatsächlich hilft? Herr Gerhard weiß nur eines: Er ist auch 2008 wieder dabei.

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