Zwischen Wirtschaftsboom und »kulturellem Genozid«

China macht Tibeter immer mehr zu Fremden im eigenen Land

  • Heidi Diehl
  • Lesedauer: 9 Min.
Li lässt sich nicht festnageln. Konkret wird er nur dann, wenn die Fragen unverfänglich sind. Stellt man ihm jedoch eine auch nur in Ansätzen politische Frage zu Tibet, weicht er geschickt aus, lässt sich bestenfalls auf ein unverbindliches »ich habe gelesen«, »ich habe gehört« oder »man hat mir erzählt« ein, und manchmal flüchtet er sich sogar ins Historische. Li Jun, wie der 39-Jährige mit vollständigem Namen heißt, wuchs im südchinesischen Chongqing auf, studierte nach einem glanzvollen Abitur Deutsch und Englisch in Peking, lebt und arbeitet seit 17 Jahren in Tibets Hauptstadt Lhasa als »General Manager« von »Tibet China Travel Service«, einem großen chinesischen Reiseunternehmen. Als Guide begleitet er Ausländer aufs »Dach der Welt«.
Der Potala – hier lebte der 14. Dalai Lama bis zu seiner Flucht 1959 – gilt als nationales Symbol Tibets.
Der Potala – hier lebte der 14. Dalai Lama bis zu seiner Flucht 1959 – gilt als nationales Symbol Tibets.

Diesmal sind es sieben deutsche Journalisten, »getarnt« als »normale« Touristen, die mit dem Berliner Reiseveranstalter »Lernidee« auf Inforeise sind. Denn derzeit gelten alle ausländischen Reporter für Peking als Persona non grata und erhalten keine Einreisegenehmigung nach Tibet. Aus gutem Grunde: Schließlich soll der Welt ein Bild vom wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufschwung des Landes vermittelt werden. Da kann man ewig nörgelnde, alles hinterfragende und infrage stellende Journalisten nicht gebrauchen.

Am ersten Abend gehen wir zum Potala-Palast, dem nationalen Symbol Tibets, der von 1694 bis 1959, als der 14. Dalai Lama Tenzing Gyatso von hier floh, Sitz des geistigen und weltlichen Oberhaupts Tibets war. Li macht uns auf ein gigantisches Bauwerk gegenüber dem Potala aufmerksam. »Das ist das Denkmal für die friedliche Befreiung Tibets«, erklärt er. Wovon denn das Land befreit wurde, frage ich ihn. »Vom Feudalismus«, antwortet er nach kurzem Zögern.

Wiedervereinigung nach Art Chinas
Tatsächlich lebten die Tibeter bis 1949, als Mao nach seiner Machtübernahme beschloss, das unabhängige Land mit dem »chinesischen Mutterland« wiederzuvereinen, in tiefster feudaler Rückständigkeit. Mehr als 90 Prozent der Bevölkerung waren Analphabeten, es gab kein einziges weltliches Krankenhaus, 600 000 Tibeter – jeder Zehnte – lebten in Klöstern, 200 Adelsfamilien bestimmten über zwei Drittel des Grundbesitzes, auf dem Bauern wie Leibeigene schufteten. Von Industrie war weit und breit keine Spur, viele zogen als Nomaden durchs Land.

Jahrhundertelang hatte China versucht, seine Macht auf Tibet auszudehnen. Doch größeren Einfluss gewann das Land erst 1682 nach dem Tod des 5. Dalai Lamas. Als Ende des 18. Jahrhunderts nepalesische Krieger Tibet überfielen und besetzten, schickte der chinesische Kaiser Truppen, die die Eindringlinge vertrieben. Eine nicht ganz uneigennützige Hilfe, denn von nun an setzten sich die Chinesen dort fest. 1911 brach in China die republikanische Revolution aus, im Februar 1912 musste der letzte Kaiser auf den Thron verzichten, ein Jahr später verkündete der 13. Dalai Lama die Unabhängigkeit Tibets, die China jedoch nie anerkannte. Schnell wurde dem Dalai Lama klar, dass das Land seine Unabhängigkeit nur bewahren könne, wenn es seine Wirtschaft und gesellschaftlichen Strukturen modernisiert, doch widersetzten sich Adelige, Mönche und Äbte erfolgreich allen Reformversuchen.

Das erledigte China in den vergangenen fünf Jahrzehnten dann in aller Gründlichkeit. Mit harter Hand versuchte es, die Tibeter von ihrer feudalen Rückständigkeit zu »befreien« – buddhistische Klöster sowie viele Heiligtümer und Kulturschätze werden geschleift, Nomaden zwangskollektiviert, Tausende, die sich der neuen Ideologie widersetzten, ermordet oder in Umerziehungslager gesteckt. Bis Ende 1958 sind 20 000 chinesische Soldaten in Tibet stationiert. Immer explosiver wird die Situation im Land. Als dann Anfang 1959 in Lhasa das Gerücht umgeht, die Besatzer wollen den 14. Dalai Lama entführen, kommt es zum Volksaufstand. Am späten Abend des 17. März flieht das tibetische Oberhaupt nach Indien. China rächt sich blutig, jeder Vierte der rund 30 000 Einwohner Lhasas wird in den kommenden sechs Tagen ermordet. Am 23. März lässt der befehlshabende General die chinesische Flagge auf dem Potala hissen. Im September 1965 proklamiert Peking das »Autonome Gebiet Tibet«. Bis zum Ende der »Kulturrevolution« im Jahr 1976 werden die meisten der 6000 Klöster zerstört, tausende Mönche und Nonnen ermordet oder ins Exil getrieben. An den Schulen wird ausschließlich nach den »fortschrittlichen« chinesischen Lehrplänen unterrichtet, jeder buddhistische Hokuspokus soll für immer ausgemerzt werden.

Erst in den 80er Jahren, als Mao und seine radikalen Nachfolger entmachtet sind, kehrt etwas mehr Freiheit in den Alltag der Menschen zurück. Zerstörte Klöster werden wieder aufgebaut, religiöse Zeremonien und Rituale wieder zugelassen, die Zwangskollektivierung zurückgenommen. Und China öffnete Tibet einen kleinen Spalt nach außen. Das allerdings hatte ganz handfeste wirtschaftliche Gründe – man entdeckte den Tourismus als Devisenquelle. Kamen 1980 nur 300 ausländische Touristen, so erhöhte sich die Zahl bis 1987 auf 43 000. Im Oktober 1987 kam es zu großen Demonstrationen für die Unabhängigkeit Tibets, die mit Gewalt beendet wurden. Informationen und Fotos davon erreichten die Welt nicht über offizielle Kanäle, sondern vor allem über westliche Touristen. China reagierte prompt und verhängte erstmals in der tibetischen Geschichte das Kriegsrecht über Lhasa. Mit dem Ergebnis, dass der Tourismus einen empfindlichen Rückschlag erlebte, der bis Ende der 90er Jahre anhielt.

Seit den Unruhen vor 20 Jahren haben die chinesischen Machthaber dazugelernt. Noch intensiver als schon vorher werden Touristen beobachtet, sogar heimlich ihre Sachen durchwühlt, wie es auch zwei Kollegen aus unserer Gruppe erlebten. Als sie nach einem Ausflug in ihr Hotelzimmer zurückkamen, stellten sie (am vorher fast vollen und nun fast leeren Akku) fest, dass sich Fremde auf der Festplatte ihrer Laptops umgesehen hatten.

Tibetbahn bringt nicht nur Vorteile
Vor wenigen Tagen vermeldete die chinesische Nachrichtenagentur einen neuen Touristenrekord: Mehr als vier Millionen (mehr als 90 Prozent sind Chinesen) hätten 2007 Tibet besucht, 64 Prozent mehr als 2006, die mehr als 480 Millionen Euro an Einnahmen brachten. Diese enorme Steigerung ist vor allem auf die am 1.7.2006 in Betrieb genommene Eisenbahnlinie von Golmud nach Lhasa zurückzuführen, die erstmals ein bequemes und preiswertes Reisen nach Tibet auf dem Landwege ermöglicht.

Doch viele sehen die Bahn, die als technisches Meisterwerk gilt, mit gemischten Gefühlen. Noch mehr wirklich an den Schätzen der tibetischen Kultur und Kunst Interessierte aus aller Welt werden kommen und den Tibetern zeigen, dass diese, anders als die chinesische Propaganda ihnen versucht klarzumachen, weder veraltet noch rückständig sind. Unbestritten ist auch, dass über den neuen Schienenweg immer mehr Waren nach Tibet fließen, die das Leben der Tibeter erleichtern. Andererseits kann China nun auch viel einfacher die wertvollen Rohstoffe wie Uran, Kohle, Gas oder Gold aus dem Land herausschaffen. Auf umgerechnet 65 Milliarden Euro wird der Wert der Bodenschätze geschätzt, die seit den 80er Jahren in immer stärkerem Maße abgebaut werden.

Und immer mehr Chinesen kommen ins Land, um hier sesshaft zu werden. Nicht, weil sie Tibet so schön finden, sondern weil Peking sie mit einer Reihe von Steuerprivilegien und weiteren Vergünstigungen ködert. Die Löhne seien etwa doppelt so hoch wie im »Mutterland«, statt zehn Tage Jahresurlaub erhalten sie in Tibet 45, erzählt uns Li. Preiswerte Wohnungen, die vor allem in den Städten wie Pilze aus dem Boden schießen, tun ihr Übriges. All diese Vorteile gelten allerdings nicht für Tibeter, die sich zunehmend wie Fremde im eigenen Land fühlen. Insbesondere in Lhasa, wo heute schon zwei von drei Einwohnern Chinesen sind, ist deutlich zu sehen, wie der massenweise Zuzug das Gesicht der Stadt und die kulturellen Traditionen verändert. Vom alten Lhasa blieben nur Teile des Stadtzentrums erhalten, viele historische Bauten mussten weichen, um Platz für moderne Glaspaläste zu schaffen. Seelenlose Neubauten prägen die Stadt, die sich immer mehr ausdehnt. Am Stadtrand entsteht derzeit ein gigantisches Industriegebiet. Auf dem Barkhor, dem traditionellen Marktplatz, dessen Zentrum der Jokhang-Tempel ist – das wichtigste religiöse buddhistische Zentrum, zu dem jeder gläubige Tibeter wenigstens einmal im Leben pilgern will – verkaufen heute vor allem chinesische Händler von der Gebetsmühle bis zur Barbiepuppe alles. Pilger, die vor dem Jokhang ihre rituellen Niederwerfungen machen, werden von Touristen wie Exoten im Tierpark bestaunt. Gleich neben dem Barkhor kann man in Nobelboutiquen einkaufen, im Kino läuft »Harry Potter«, und als Friseurläden getarnte Bordelle machen gute Geschäfte.

Klein Las Vegas und Karaokebar
Li führt uns am Abend in ein Vergnügungsviertel, das mit seinen schrillen Leuchtreklamen ein bisschen wie Klein Las Vegas wirkt. Tibeter sieht man hier nicht, dafür aber erleben wir ein ganz besonderes Restaurant. Es heißt nicht nur »Kulturrevolution«, sondern versucht auch mit zahlreichen Maobildern und anderen Devotionalien an den Wänden sowie finster dreinblickenden Serviererinnen in Uniformen, ausgestattet mit Orden und Sprechfunkgeräten, das Flair der Zeit zu vermitteln. Zum Nachtisch genehmigen wir uns einen Blick in eine Karaokebar mit kreischenden chinesischen Teenies. Spätestens in Klein Las Vegas wird überdeutlich klar, was der Dalai Lama damit meinte, als er im letzten Sommer bei einem Treffen mit EU-Abgeordneten vom »kulturellen Genozid« der chinesischen Besatzer an seinem Volk sprach.

Dennoch wäre es falsch, Tibet ausschließlich durch diese Brille zu betrachten, und auch der Dalai Lama fordert seine Landsleute nachdrücklich auf, »so fleißig, wie die tüchtigen chinesischen Kaufleute« zu sein. »Nirgendwo steht geschrieben, dass unser Glaube uns zur Rückständigkeit zwingen soll – ganz im Gegenteil«, lässt er sie wissen.

Drogmar, eine 36-jährige Bäuerin aus Gamba, rund 70 Kilometer von Lhasa entfernt, erzählt uns, dass sie froh darüber sei, dass ihre elf- und neunjährigen Töchter zur Schule gehen können. Mit dem Geld, das ihr Mann auf dem Bau verdient und dem, was die paar Yaks und der Ackerbau auf dem Stückchen vom Staat gepachteten Land abwerfen, konnten sie sich vor drei Jahren ein neues Haus bauen. Sie seien zufrieden. Wie sie sich die Zukunft für ihre Töchter wünscht, frage ich sie. Lange denkt sie nach, doch eine Antwort findet sie nicht.

Der nächste Tag führt uns ins tibetische Heiligtum, den Potala. Li bringt einen Bekannten mit, der auch Germanistik studierte und – ebenso wie Li – ein brillantes Deutsch spricht. Lotze, Anfang 30, ist Tibeter und hat bis auf seine Studienzeit immer in Lhasa gelebt. Ob ich von ihm, statt Lis chinesische Sicht auf die Dinge, eine etwas differenziertere bekomme, wage ich zu bezweifeln. Denn noch immer kann zu viel Offenheit, insbesondere Fremden gegenüber, drastische Strafen nach sich ziehen. Und in Tibet scheinen sogar die Straßenlaternen Ohren zu haben. Dennoch versuche ich es und frage auch ihn, für welche Befreiung das Denkmal auf dem Platz gegenüber dem Potala aufgestellt wurde. »Das ist eine politische Frage, darauf kann ich nicht antworten«, sagt er leise. Und ob der Potala für ihn mehr Kulturgut oder nationales Symbol sei, bohre ich weiter. Beides, lässt er mich wissen, aber letzteres ein bisschen mehr. Später stelle ich Li die gleiche Frage, und diesmal hat er eine klare Antwort: »Selbstverständlich ein Kulturgut.« Als wir die Grabstätten der zahlreichen Dalai Lamas sehen, möchte ich von Li wissen, ob er sich vorstellen könne, dass der im Exil lebende 14. auch hier seine letzte Ruhe finden könnte. Das glaube er nicht, sagt er, denn seit 1994 sei der Potala eine UNESCO-Weltkulturerbestätte und damit ein abgeschlossenes Ensemble. Und Lotze? Der schaut sich nach allen Seiten um und erklärt mir dann, dass er auf »diese politische Frage« leider keine Antwort geben könne.

Später weist uns Li noch auf eine Stele auf dem Platz vor dem Potala hin, auf der in chinesischen und tibetischen Schriftzeichen steht: »Es lebe unser Vaterland«. Welches gemeint sei, will ich von ihm wissen. »Natürlich China!« kommt es ohne zögern. Als ich mich von Lotze verabschiede, versuche ich, auch noch seine Sicht zu erfahren. Er schaut mir lange in die Augen, dann sagt er: »Ich bin Tibeter«, gibt mir die Hand und geht.

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