Physiker versus Stalin

Nobelpreisträger Lew Landau wäre heute 100 Jahre alt geworden

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 3 Min.

Für seine Schüler war er das Musterbeispiel eines weltfremden Gelehrten, der ganz in seiner Wissenschaft aufging: der sowjetische Physiker Lew Davidowitsch Landau (Foto: Archiv). In Wirklichkeit jedoch, so enthüllten unlängst die Archive, rief er 1938 zum Sturz Stalins auf und entging nur knapp einem Todesurteil.

Wie viele junge Sowjetwissenschaftler war auch Landau, der am 22. Januar 1908 in Baku geboren wurde, zunächst ein glühender Anhänger des Kommunismus. Er studierte in Leningrad Physik und genoss später das seltene Privileg, mit einem Stipendium ins Ausland reisen zu dürfen. Zwei Jahre arbeitete Landau unter anderem bei Werner Heisenberg und Niels Bohr, dann kehrte er in die UdSSR zurück und wurde mit 24 Jahren Physikprofessor in Charkow. Als er hier versuchte, das Problem des radioaktiven Betazerfalls zu lösen, zweifelte er ebenso wie Bohr anfangs an der strengen Gültigkeit des Energieerhaltungssatzes. Und obwohl Landau diese Zweifel bald wieder fallen ließ, wurde er von der Presse beschuldigt, mit seiner Arbeit die marxistisch-leninistische Philosophie zu beschädigen. Aber auch das NKWD warf nun ein waches Auge auf den Physiker, der in dem Ruf stand, ein Kritiker der Politik Stalins zu sein. Es dauerte nicht lange und zwei verhaftete Kollegen sagten aus, Landau sei der Kopf einer konterrevolutionären Bande. In dieser gefährlichen Situation ging oder besser noch floh Landau nach Moskau zu Pjotr Kapiza, der als Physiker im Westen einflussreiche Freunde hatte. Gleichwohl wurde Landau im April 1938 verhaftet und ins Lubjanka-Gefängnis gebracht.

Im Gegensatz zu vielen anderen Wissenschaftlern, die dem Stalinschen Terror zum Opfer fielen, war Landau nicht »unschuldig«. Er hatte vielmehr ein Flugblatt mitverfasst, das er und einige Freunde am 1. Mai 1938 in Moskau heimlich verteilen wollten. Darauf stand: »Genossen! Das große Ziel der Oktoberrevolution wurde schmählich verraten. Die Wirtschaft verfällt, Hungersnot droht. Das Land ist in Strömen von Blut und Unrat versunken.« Damit nicht genug forderten die Verfasser des Flugblatts die Genossen auf, Stalin zu stürzen, damit die UdSSR im Kriegsfall nicht dem »bestialischen deutschen Faschismus« zum Opfer falle. Dass Landau daraufhin nicht sofort erschossen wurde, mutet wie ein Wunder an. Wie man heute jedoch weiß, war es Kapiza, der dieses Wunder bewirkte, indem er kurz entschlossen einen Brief an Wjatscheslaw Molotow schrieb. Darin wies er den späteren Außenminister darauf hin, dass Landau ein begnadeter Forscher und sein Tod ein großer Verlust für die Sowjetunion sei. Außerdem versprach Kapiza, fortan gut auf Landau aufzupassen. Im Mai 1939 wurde dieser gegen Kaution frei gelassen – und bedankte sich auf seine Weise. Er erklärte theoretisch, was Kapiza 1937 im Experiment beobachtet hatte: Bei der extrem tiefen Temperatur von 2,18 Grad Kelvin verliert flüssiges Helium seine viskosen Eigenschaften und kann daher durch die allerfeinsten Ritzen strömen. Suprafluidität, so nennen Physiker dieses Phänomen.

Nach 1945 war Landau am Bau der sowjetischen Atom- und Wasserstoffbombe beteiligt und durfte sich hinterher mit dem Ehrentitel »Held der sozialistischen Arbeit« schmücken. Seinen größten Triumph allerdings feierte er 1962, als er für seine Forschungen zur Physik des suprafluiden Heliums den Nobelpreis erhielt.

Doch das Jahr 1962 wurde auch zu seinem Schicksalsjahr: Bei einem Autounfall in der Nähe von Moskau erlitt Landau schwerste Hirnverletzungen und musste sechsmal dem klinischen Tod entrissen werden. Danach veränderte sich nicht nur seine Persönlichkeit. Er verlor zudem seine wissenschaftliche Kreativität und damit letztlich seinen Lebensmut. Landau starb am 1. April 1968 in Moskau.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal