Der Irrenhaus-Faktor

  • Brigitte Zimmermann
  • Lesedauer: 3 Min.
Flattersatz: Der Irrenhaus-Faktor

Wissen eigentlich alle, dass wir hier in einem Irrenhaus leben? Der Irrenhausfaktor ist zwar nicht immer wahrnehmbar, aber präsenter als mitunter die Kanzlerin. Die sieht nach eigenem Eingeständnis gern dem Kampf der Tiger im Tale zu und studiert dabei Fragen der politischen Stilistik. Schöner Zeitvertreib – vor allem dann, wenn ausgewiesene Stilisten wie ihr Parteifreund Roland Koch das Niveau vorgeben: in Richtung Cindy aus Marzahn. Die würde ihre Erwartungen an andere auch am liebsten per Peitschenknall durchsetzen, ohne ihnen selbst gerecht zu werden. Um das zu bemerken, muss man allerdings eine ganze Cindy-Darbietung durchhalten. Aber ist das bei Koch so viel anders?

Besonders intensiv stellt sich das Irrenhausgefühl ein, wenn Wahlkampf angesagt ist oder es um Fußball geht. Erinnert sei an den Moment, als im öffentlichen Raum die Meldung aufschlug, dass Jürgen Klinsmann ab Juli bei Bayern München Hand und Fuß anlegen wird. Schriftbänder liefen durch die Bildschirme, fünf Sender übertrugen die Pressekonferenz live, in den »heute«-Nachrichten des ZDF war es der Spitzenbeitrag, und bei der ARD durfte der unvermeidliche Waldemar Hartmann nach der »Tagesschau« eine Sondersendung moderieren.

Die Welt steht still, weil in einem halben Jahr bei Bayern München der Trainingsplatzkommandant gewechselt wird? Der nackte Wahnsinn. Selbstmordanschläge, Umweltkatastrophen, Schienbeintretereien wegen des Jugendstrafrechts und viele andere Nachrichten, am nächsten Tag wieder als hochwichtig an zentraler Stelle dargeboten, mussten auf die Was-außerdem-geschah-Plätze weichen.

Die ständige Bereitschaft zur Unverhältnismäßigkeit ist eine der schwersten Krankheiten der modernen Medienwelt, die täglich den Irrenhaus-Faktor befördert. Und man weiß nicht, ob es einseitig der Politik angelastet werden kann, wenn sie das ausnutzt. Denn auch der größte politische Missgriff verschwindet wegen kleiner Eisbären zeitweilig von der Bildfläche. Und wenn führende Prinzessinnen heiraten oder sterben, können drei zerbrochene Tanker gleichzeitig die Weltmeere verseuchen, das kriegen wir eben später. Sicher ist auch, dass sachlich Argumentierende regelmäßig auf der Strecke bleiben. Gefragt bleiben Krawallisten, die die Quote heben.

Das Irre wird gesteigert, weil auch bei den plötzlich hochgejagten Themen am Ende wenig solide Information oder Einordnung geboten wird. Nehmen wir Klinsmann: Der galt vor knapp zwei Jahren in München noch als ein Bayern- und Vaterlandsschänder der übleren Art. Denn er unterstand sich, Oliver Kahn als Torwart Nummer zwei zurückzustufen und blieb bei seinem Wohnsitz in Kalifornien, obwohl Bayern-Manager Hoeneß ständig monierte, ein deutscher Trainer müsse auch deutsch wohnen. Er unterstellte sogar, dass sie hier die Dreckarbeit machen, während Klinsmann in Kalifornien sitzt und lacht. Aber was interessiert alle Beteiligten ihr Geschwätz von gestern?

Dito im Wahlkampf. Als Roland Koch Ausländer und das SPD-geführte Justizministerium für die Jugendgewalt verantwortlich machte, hätte ein kleiner Zusammenhang, der aber nirgends vorkam, erst recht die Durchsichtigkeit des Verfahrens entlarvt. Wenn die amtierende Justizministerin es gewollt hätte, wäre sie jetzt mit der ausdrücklich signalisierten Zustimmung der CDU/CSU bereits unterwegs, in zwei Jahren Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts zu werden.

Ein Amt, in dem erheblicher Flurschaden angerichtet werden kann. Sieht man dafür eine vor, die »untätig«, »unfähig« und »Gesundbeterin« ist (Koch), außerdem »ahnungslos« (Bosbach) und erst redet, bevor sie denkt (V. Kauder)? Wirklich gegen sie spricht, dass diese sehr lauten deutschen Herren sie wählen wollten.

Sollte heute also eine weitere größte Fehlbesetzung ausgerufen werden, seit Caligula sein Pferd zum Konsul machte, brauchen wir nicht irre zu werden: Es ist schon morgen die Meldung und das Geschwätz von gestern.

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