Franz Kafka auf der Deponie

Wie fünf Görlitzer Lokalpolitiker in die Fänge des Gesetzes gerieten

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 6 Min.
Fünf Görlitzer Kommunalpolitiker sollen zahlen – für einen Vertrag, den sie als Aufsichtsräte eines kommunalen Betriebs billigten. Die Geschichte wirkt grotesk, ist aber bitterernst: Es geht um 375 000 Euro.
Klaus Keller , ehem. PDS-Stadtrat, ist einer von fünf einstigen Aufsichtsräten der Stadtreinigung, die wegen eines umstrittenen Vertrags beim Verkauf der Deponie zusammen mit dem Geschäftsführer insgesamt 375 000 Euro Schadenersatz zahlen sollen.
Klaus Keller , ehem. PDS-Stadtrat, ist einer von fünf einstigen Aufsichtsräten der Stadtreinigung, die wegen eines umstrittenen Vertrags beim Verkauf der Deponie zusammen mit dem Geschäftsführer insgesamt 375 000 Euro Schadenersatz zahlen sollen.

Klaus Keller hat eine gut sortierte Bibliothek. Auf den vollen Regalen in seinem kleinen Arbeitszimmer stehen alphabetisch geordnet und in doppelter Reihe Klassiker wie Musil und Poe, dazu militärgeschichtliche und historische Wälzer und Biografisches von Gysi bis Krug. Sollte Keller indes die literarische Entsprechung seiner eigenen Geschichte nachlesen wollen, die er mit einer Mischung aus Furor und Fassungslosigkeit vorträgt, dann empfiehlt sich Franz Kafkas »Process« – die Geschichte eines Mannes, der unvermittelt in ein albtraumhaftes Geflecht von Bürokratie und Justiz verstrickt wird und bis zum Schluss nicht weiß, worin seine Schuld besteht.

»Es gab eine klare

Beschlusslage«

Keller war einmal Aufsichtsrat. Nach Feierabend und für ein bescheidenes Salär beaufsichtigte der langjährige Offizier gemeinsam mit drei Kollegen aus dem Stadtrat und einem Bürgermeister die Geschäfte der Görlitzer Stadtreinigung. Die Arbeit war kein Zuckerlecken. Als er 1997 in das Gremium kam, erhielt er ein Organigramm des Betriebs. Die Liste der Beteiligungen und Verflechtungen füllte eine A4-Seite. Das »Aufräumen« gestaltete sich schwierig. Ein Geschäftsführer wurde abberufen, der übergangsweise eingesetzte CDU-Finanzbürgermeister Rainer Neumer warf nach ein paar Monaten überraschend das Handtuch. Schließlich übernahm der Vorstand der Stadtwerke den Posten – »ein Kaufmann, der Ahnung hatte vom Geschäft«, sagt Keller. Für die Aufsichtsräte begann die Arbeit jetzt erst richtig: »Wir tagten praktisch in Permanenz.«

Der Beschluss, der Keller und seinen vier Kollegen seit Jahren den Schlaf raubt und einige an den Rand des Ruins treiben könnte, war damals einer von vielen »und bei weitem nicht der bedeutendste«, sagt Keller. Es ging um die Verlängerung des Vertrags mit einem Analyselabor, das Proben auf der hochmodernen, streng überwachten Mülldeponie untersuchte. Die Firma war zur allseitigen Zufriedenheit tätig gewesen. Der Kontrakt wurde zunächst um drei Jahre verlängert, dann aber, weil das Labor investieren wollte und dazu Sicherheiten bei den Banken vorweisen musste, bis 2005 festgeschrieben.

Mit dieser Vertragsverlängerung handelten die Aufsichtsräte »erheblich fahrlässig«. Das jedenfalls befand nach langem Rechtsstreit im Herbst 2005 das Landgericht Görlitz. Das Oberlandesgericht schloss sich ein Jahr später der Meinung an; eine Beschwerde beim Bundesgerichtshof wurde nicht zugelassen. Die Richter begründeten ihr Urteil damit, dass wenige Wochen nach dem Zuschlag für das Labor die bislang städtische Deponie an einen neuen Betreiber, den kommunalen Zweckverband RAVON, verkauft wurde. Dieser übernahm eine Vielzahl von Verpflichtungen der Deponie; ausgerechnet den Vertrag mit dem Analyselabor aber übernahm er nicht. Dessen Eigentümer klagte daher auf Schadenersatz; die Stadt reichte die Ansprüche an Aufsichtsrat und Geschäftsführer weiter. Die Höhe der berechtigten Ansprüche bezifferte das Landgericht im Januar 2008 auf 375 000 Euro.

375 000 Euro sind eine enorme Summe, besonders, wenn sich fünf Kommunalpolitiker und ein ehemaliger Geschäftsführer hinein teilen sollen. Als Keller, der einst Taktik an der Offiziershochschule Löbau-Zittau unterrichtete und von 1990 bis 2004 die PDS-Fraktion im Stadtrat leitete, erstmals mit dem Ansinnen konfrontiert wurde, glaubte er wie der Prokurist Josef K. in Kafkas Roman zunächst an ein Missverständnis. Noch beim ersten Gerichtstermin habe er die Angelegenheit »sehr locker gesehen«. Inzwischen hat die Lockerheit Ratlosigkeit und Verzweiflung Platz gemacht. Er habe »diese Geschichte so satt«, sagt Keller und fügt hinzu, die Angelegenheit gehe »sehr an die Substanz«. Immer wieder gerät der 67-Jährige in heiligen Zorn und schlägt sich vor die Stirn, weil einfach nicht in seinen Kopf hinein will, was ihm vorgeworfen wird.

Kein Verständnis hat Keller vor allem für die zentrale Behauptung, er und seine Kollegen hätten den Verkauf der Deponie absehen müssen und deshalb den Analysevertrag nicht abschließen dürfen. Ein halbes Jahr vor der umstrittenen Unterschrift hatte der Stadtrat im Dezember 1997 mit deutlicher Mehrheit einen Verkauf noch abgelehnt. Es gab, so Keller, »eine klare Beschlusslage«. Allerdings gab es auch enormen Druck von Landesregierung und Regierungspräsidium, dessen Präsident den Stadträten sogar gedroht habe, man sitze »am längeren Hebel«.

Und es herrschten turbulente Zeiten in der Görlitzer Kommunalpolitik. Im Februar 1998 wurde CDU-Oberbürgermeister Matthias Lechner abgewählt. Schon in der ersten Sitzung unter Nachfolger Rolf Karbaum (SPD) kam der Deponieverkauf erneut auf die Tagesordnung – und wurde mit einer Stimme Mehrheit beschlossen. Angesichts der heutigen Schadenersatzforderungen besonders grotesk: Der Kaufpreis soll mindestens zehn Millionen Mark unter dem geschätzten Wert der Anlage gelegen haben.

Dass sich die Stadt trotzdem an den ehemaligen Aufsichtsräten »schadlos hält«, wie es ein Rechtsanwalt formulierte, habe tiefere und teils undurchsichtige Gründe, ist Keller überzeugt. Manches klingt nach simpler Retourkutsche. So hatte der Aufsichtsrat den Interims-Geschäftsführer und Ex-Bürgermeister Neumer wegen Untreue angezeigt; just dieser habe später aber den Vertrag mit dem Zweckverband RAVON ausgehandelt, in dem der strittige Analysevertrag ausgelassen wurde. Daneben wird über Hintergründe spekuliert, die in den Umständen der Abwahl von OB Lechner oder im Interesse des Landes an einem Deponieverkauf liegen. Keller belässt es bei Andeutungen; eines aber hält er für sicher: Die Posse um die Stadtreinigung und ihren Aufsichtsrat sei »eine perfide Inszenierung«.

Dieses bittere Fazit ist nicht zuletzt in dem Umstand begründet, dass eine gütliche Beilegung der Affäre bislang nicht zustande kam. Eigentlich springt für ehrenamtliche Kommunalpolitiker, die sich fahrlässig einen Fehler zu Schulden kommen lassen, die Stadt ein; nur bei grob fahrlässigem oder gar vorsätzlichem Handeln werden sie selbst zur Kasse gebeten. So steht es in Sachsens Gemeindeordnung. Im diesem Fall sah das Gericht »erheblich fahrlässiges« Handeln; eine Formulierung, die das Gesetz nicht kennt, die aber aus Sicht von Rathaus und Kommunalaufsicht die Geldforderung rechtfertigt. Er sei verpflichtet, das Vermögen der Stadt zu erhalten, sagte Oberbürgermeister Joachim Paulick dem ND: »Und die Urteile sind der Stadt zustehendes Vermögen.«

»Das ist der Tod des

Ehrenamts«

Der Stadtrat unternahm indes mehrere Anläufe, die ehemaligen Kollegen von der Haftung zu befreien, und hält daran auch fest, nachdem ein 85-seitiges Rechtsgutachten die Position des OB bekräftigte. In geheimer Abstimmung votierte das Gremium kürzlich mit 19 zu 4 Stimmen für eine Freistellung – ein Votum, das Keller mit Genugtuung zur Kenntnis nahm. Die Freude währte aber nur kurz: Vergangene Woche legte Paulick Widerspruch dagegen ein.

Ob der Fall, der nach Auskunft von Kommunalverbänden bundesweit einzigartig ist, gütlich beigelegt werden kann, ist völlig offen. Keller erklärt, finanziell sei bei ihm nichts zu holen: »Man kann mir meine Minimalrente kürzen, sonst nichts.« Sein Vertrauen in den Rechtsstaat ist erschüttert. Dass »Feierabendpolitiker« mit so horrenden Forderungen überzogen werden, sei »der Tod des Ehrenamtes«, sagt Keller. Was den Glauben an die Gerichte anbelangt, geht es ihm ähnlich wie Josef K. in Kafkas »Process«, dem Roman, in dem die Parabel »Vor dem Gesetz« enthalten ist. Darin wartet ein Mann, von einem Türhüter hingehalten, dass sich die Pforte zum Gesetz für ihn auftut. Er harrt jahrelang. Er wartet vergebens.

Eingang zur Mülldeponie Görlitz-Kunnersdorf
Eingang zur Mülldeponie Görlitz-Kunnersdorf
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