nd-aktuell.de / 26.02.2008 / Kultur / Seite 11

Kriegerisches Hochgefühl verwirrt

Luk Pervecal inszenierte Kleists »Penthesilea« an der Berliner Schaubühne

Hans-Dieter Schütt

Stiefelschritte knarren. Sie haben viel Zeit, um zu knarren. Denn eine Bühnenrunde zu laufen, das dauert. Der Sportplatz ist ein Mordplatz. Die Bühne: ein Betonrund, an dem ein paar Eisenplatten lehnen; die Eisenplatten spielen gleichsam jenes zerstörte, aber doch so unverwundbare, stets so verflucht auferstehungsfähige Kriegsgerät aller Zeiten, das den Weg der Menschheit hin zum jeweils nächsten brüchigen Frieden säumt. Das Stiefelknarren also. Teil eines Klangstücks, denn rechts am Bühnenrand steht der Musiker Jan-Paul Bourelly, dessen Elektrogitarre in Kleists Text hineinschreit, ihn zerdröhnt, mit ihm aufjault, ihn martialisch übermalt. Um aber immer wieder Momente einer Stille einzuschieben, in denen dieser unglaublich wuchtige, poetische Text seine kurze Wirkungsfrist nutzen muss. Diese Dichtung! Der es in höchstem Maße gelingt, das Wurzelwerk unserer unerlösten Existenz freizulegen: Kleists Erzählung vom zerschmetternd Elementaren, der Weltdramatik eingraviert mit angespanntestem, erhebendem Formwillen. Man steht davor und kann doch nur knien. Immer schon war dieses Werk ein Angebot ans Theater, mutig zu kapitulieren. Was da geschrieben steht, lässt sich so unendlich schwer veräußern.

Luk Perceval kniet nicht, er inszeniert. Er wagt an der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz einen Zugang, der Kleist, das muss gesagt sein: beschädigt. Er zerrt das Hohe und Höchste in den weißgrauen Kalkschlamm herunter, der die Gesichter aller Schauspieler so gnadenlos gleich, so furchtbar unkenntlich macht. Er stellt etwas aus, er stellt nicht her. Sehr schnell also ist klar, was von der Welt zu halten ist. Diese Inszenierung offenbart das Porträt jener Geheimnislosigkeit, in welcher sich alles Sehnen und Wünschen und Lieben, also: alles ehrenwerte Menschsein, erledigt. Es ist der Versuch, den Krieg in Zeiten ununterscheidbarer Bilder von Untergang und Unterhaltung noch einmal aufs Theater zu bringen. Und genau da gibt es in dieser Szenerie ganz aus choreografierter Distanz dann doch Dinge, die erschüttern.

Alle Szenen: eine Szenerie – hier ist keinem ein Abgang erlaubt. Als habe ein Gericht sich entschieden, Kläger, Angeklagte, Zeugen, Anwälte, Verteidiger in einen Erzähl-Raum zu sperren, und nun durchmischen sich die Erzählorte, die Erzählebenen; alle hören jeden; die Welt der Griechen und der Amazonen, eine ungeteilte Welt; höchstens, dass man auf dieser Bühne ein wenig zur Seite weicht, im Hintergrund Schutz sucht, sich seitwärts hält. Der Rest ist Rede, ist Kleist-Text, in den kein Requisit sich einmischt, kein Schwert, keine Rose vom Rosenfest der Amazonen, kein Szenenwechsel, kein Chor. Nur immer wieder diese Gitarre, die eine Schlacht mit sich selber schlägt. In der Mitte dieser Bühne von Annette Kurz steht ein Pulk hoher Balken, gedreht, als sei er ein Haufen von Mikado-Stäbchen. Eine Eisenklammer hält ihn, aber man darf an die unsichtbare Hand des Schicksals denken. Am Ende wird dieser Haufen, wie beim Mikado-Spiel, vorhersehbar auseinanderfallen; aber ich ertappe mich als Unbelehrbarer, der ein Faible hat für Symbole auf scheinbar dokumentarem, klar einsehbarem Feld, und der in solchen theatralischen Effekten noch immer etwas Imposantes sieht, das zu Assoziationen reizt.

»Penthesilea« ist ein lange dauerndes Trauerspiel. Goethe proklamierte die Unspielbarkeit. Sein klassisches Ideal und Kleists Erguss müssen bis heute einander bestreiten. Schon der Redestrom, der aus dem Mund des Odysseus hervorbricht, kündigte die neue Mode an, den epischen Überblick: wie sich Penthesilea an der Amazonen Spitze zwischen die kämpfenden Griechen und Trojaner gemengt habe, für keine Seite hilfreich, sondern konträr zu beiden, die Schlachtordnung verheerend, als ob der Teufel die Frauen ritte, und wie die Anführerin gegenüber dem Fürsten Achilles so rot geworden sei, dass der Purpur ihre Rüstung von innen her schimmernd verfärbte ... Beginn der Geschichte jener Amazonenkönigin, die diesen Achilles will. Sie muss ihn aber im Kampf erobern. Unterliegt jedoch. Weil auch er sie liebt, fordert er sie zum Kampf – um sich, zum Schein, in die Knie zwingen zu lassen. Hassliebe rast, und Penthesilea lässt den Geliebten vom Pfeil durchbohren, von Hunden zerfleischen. Ein ungeheuerlicher Sog ist das, hin ins ekstatisch Todeswütige, das aus Lebenswillen, aus Liebessehnsucht kommt.

Die Amazonen, die sich kopfschüttelnd, handgreiflich, letztlich vergeblich gegen Penthesileas wachsende Unbedingtheit werfen, sind in dieser Inszenierung die misstrauisch äugenden, überforderten Sachwalter der Realpolitik. Die alles observieren, was neben der Spur liegt Diese Amazonen sind bei Perceval kein attraktiver weiblicher Trupp, eher eine geplagte unschöne, beleibte Dreier-Riege, hervorgebracht von einer Diktatur – und dennoch: Indem die Regie jeden zum Zeugen der jeweiligen Gegenposition erhebt, entwickelt sie einen Keim des Einander-Verstehens, des prüfenden Zuhörens, ein Keim, der freilich einfrieren muss unter jenem Unerbittlichkeitshagel, jenem Zwangsvollstreckungssturm der Kleistschen Dämonie, die Versöhnung nicht zulassen darf.

Also: das Erschütternde. Es ist das Gefühl der Sinnlosigkeit, das über allem liegt. Wie der Krieg diese Gesichter so gesichtslos weiß und rotlippig macht. Diese stumpfe Umrunden der Bühne, dieser Takt des Zermahltwerdens, der noch Halbgötter und Glanzhelden zu grauen Schräubchen einer unbegreiflichen Maschinerie macht. Die alle da, ob Amazonen oder Griechen, sind Vorbestimmte, sind Teil des Mikado-Schicksals, sind irrende Menschenteilchen, die nichts an seelischem Aufwand, nichts an gütigem Aufkommen in der eigenen Brust retten kann vorm schmählichen Ende.

Perceval hetzt seine Gestalten durch einen Krieg, dessen Auftrag längst vergessen wurde. Im Laufschritt der Landsknechte, nackter Oberkörper, Militärhosen, versucht Achilles (Rafael Stachowiak) die glühend fühlende Gegenwelt der Liebe, er tanzt inmitten dieses Stampfens der anderen, hüpft gegen die unerbittliche Vorwärts-Haltung der anderen, wirkt dabei so frei und zugleich so bitter komisch: das lächerliche richtige Leben im falschen, es ist, ach, nur ein kindisch wirkender Tanzschritt zur völlig unpassenden Musik.

Über der Szene hängen rund um die Bühne an langen Drähten Mikrofone, deren kleine stählerne Kugeln wie Planeten aussehen, um die die Menschen kreisen. Zueinander zu sprechen, ist ein Weg von Galaxis zu Galaxis. Wenn diese Drähte schwingen, wird der Laufschritt zum Slalom zwischen den Mikrofonen; die Köpfe weichen zurück; Lippen, die etwas sagen wollen, folgen der Pendelrichtung des jeweiligen Mikrofons. Penthesilea ist es vor allem, die immer wieder diese Mikrofone wie Bälle, wie Handgranaten wirft; hier werden jedes Hauchen, jeder gehetzte Atem, jedes Wort zu einer eindringlichen Verstärkung. Kleist als Konzert aus Furcht und Zittern, aus lauter Geräuschen der Überforderung, der Überdehnung. Und alle Menschen hier: Schmutz und Staub und die reine Austauschbarkeit. Als vollzöge sich die Versöhnung mit unserer geschändeten Natur erst auf den Müllkippen der großen zerkriegten Ideen. Fast blutleere Wesen. Unser Blut? Wir überschätzen es. Im Gesamthaushalt der Welt nur immer ein kleines Rinnsal. Aber: Es kann uns in Strömen verlassen, die rote tote Linie Krieg verliert sich nie.

Penthesilea. Die schmale, kleine Katharina Schüttler. Keine aufragende, alle überragende Schönheit aus Geist und Perlmutt. Ein Hemdchenkind, aus dem Sterntaler-Märchen. Aber wie diese Penthesilea ihre Amazonen sich niederbeugen lässt, um auf ihren Rücken zu steigen, wie sie unverwandt ihre Blickrichtungen beibehält, das markiert eindeutig die Königin. Und wie sie unbeweglich steht und die Runde der Griechen, Achilles inmitten, an sich vorüberziehen lässt (»der mir das kriegerische Hochgefühl verwirrt«) und die Augen auf ihn richtet, als richte sie schon ihr Leben neu ein – das ergibt sich nicht, indem man einfach nur dasteht; es ist ein Moment unaufdringlichster, scheinbar unaufwendigster Präsenz, von dem ich dachte (diesen kleinen, zerfetzten, verhärteten Fleck Mensch da betrachtend): Das kann nur eine starke Schauspielerin; das da ist eine starke Schauspielerin.

Nächste Vorstellung: 7. April