Haut, Wasser, Jahrhundert

Zum Tode von Erwin Geschonneck

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.
Haut, Wasser, Jahrhundert

Es war nicht sein Jahrhundert, dieses einundzwanzigste. Hier kam er zur Ruhe. Hier saß er in einiger Ferne und sah zu. Vom Berliner Hochhaus in die Welt. Hinüber zum Rathaus, das wenigstens noch per Namen ein rotes ist. Wenigstens das.

Erwin Geschonneck blieb Kommunist, ein Leben lang. Nun sagt das wenig über die Qualität eines Schauspielers, denn so allgemein ist da nichts Gültiges zu knüpfen zwischen Gabe und Gesinnung. Geschonneck aber, Geschonneck plus Gabe plus Gesinnung, das war schon eine sehr unverwechselbare Qualität. Ihm ist das zwanzigste Jahrhundert nicht schlechthin auf den Leib geschrieben gewesen, es ist ihm unter die Haut gegangen, es ist ihm als Nummer in diese Haut eingraviert worden, und was ihm da alles unter die Haut ging, leuchtete ein Künstlerleben lang nachdrücklicher als alle Orden, die er auch bekam. Im Staat, in dem er ankam. Er kam politisch dort an, wofür er gekämpft hatte, und er kam bei den Menschen an.

Und diese Haut, bevor sie mit allen Wassern gewaschen war, wurde mit allem Schmutz getauft. Vor allem mit dem Hinterhofdreck in Berlins Ackerstraße. Er hat diese Haut nie zu Markte getragen. Und das erwähnte Wasser? Der Angstschweiß des Flüchtlings, der vor den Nazis fliehen muss, um später von den eigenen sowjetischen Genossen wieder ausgeliefert zu werden. Der Arbeitsschweiß des KZ-Häftlings von Sachsenhausen, Neuengamme, Dachau. Das Eiswasser der Ostsee, als das Häftlingsschiff »Cap Arcona« im Januar 1945 von den Engländern bombardiert wurde und von 4500 Menschen nur 360 gerettet werden konnten. Ach, bleiben wir im bemühten Bild: Geschonneck setzte gern ein Staunen auf, als könne er kein Wässerchen trüben. Aber der durchs Leben Getriebene war ein Durchtriebener, der sich unnachahmlich nuschelnd durch heikelste Situationen wand. Er spielte die Proleten, als wären sie die Herren der Welt, und er gab die etwas besseren Herren mit dem Anstrich des Niederen.

Wenn man nur einige der vielen Filme Geschonnecks gesehen hat, kommt es einem überhaupt nicht als Altersangelegenenheit in den Sinn, dass er das einundzwanzigste Jahrhundert in der Ruheposition betrachtete. Er war ein traditioneller Mensch. Traditionell heißt: ein Mensch mit tiefer Zeitbindung. An das, was DDR war. Und das für ihn mehr war als das, was nun davon geblieben sein soll.

Mit diesem einundzwanzigsten Jahrhundert nun war doch das Herannahen eines Ebbesogs zu beobachten, ein Entzug von Bedeutung in so vielen Werken, Worten, Entwürfen. Kultur ist jetzt oft so wie die Situation kurz vorm Abfluss, da die Reste in ein hilfloses Kreiseln, in immer raschere Wiederholungen geraten. Aber Geschonnecks Kunst – auch das Spiel bei Brecht, an dessen Berliner Ensemble er arbeitete – war keine Kunst der Reste, es war die berührende, sozial genaue, aufwühlende, leichte, oft komische Kunst, »die Gegensätze in ihrer äußersten Schärfe zu fassen« (Volker Braun über Peter Weiss). Den Gegensatz zwischen Biederkeit und Blutschuld (»Das Beil von Wandsbek«). Zwischen Dickkopf und Schlitzohr (»Karbid und Sauerampfer«). Zwischen Härte und Herz (»Fünf Patronenhülsen«, »Nackt unter Wölfen«, »Gewissen in Aufruhr«). Zwischen Angst und Tapferkeit (»Jeder stirbt für sich allein«).

Er kannte die Wahrheit des Schmerzes, den das zwanzigste Jahrhundert gegen die Unteren hervorbrachte. Diese Kenntnis schlug sich in ihm als begnadetes Talent nieder, die weiteren Pläne zur Steigerung des Unglücks auf der Welt zu behindern. Mit nichts weiter als mit unvergesslichem Spiel. Ein Spiel mit Haut und Jahren. Und so tief empfunden, dass es auch bezaubernd komisch war.

Am Mittwoch ist der große deutsche Charakterschauspieler Erwin Geschonneck – 1906 im ostpreußischen Bartenstein geboren, Sohn eines Flickschusters – im Alter von 101 Jahren in Berlin gestorben.

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