Raus in die Welt

  • Katrin Greiner
  • Lesedauer: 4 Min.
Literatur für Auge und Ohr: Besucher der Lesenacht
Literatur für Auge und Ohr: Besucher der Lesenacht

Die neue deutschsprachige Literatur kämpft sich durch Videosequenzen und zum Mond, bestattet dreibeinige Hunde in Italien, erlebt in Burma klaustrophobische Momente, ist manchmal nicht mehr ganz so taufrisch wie gedacht, bietet Bekanntes und Überraschendes und zudem den aktuellen Star der Buchmesse.

Am vergangenen Donnerstag war zur Langen Leipziger Lesenacht L3 in die Leipziger Moritzbastei geladen. Auf vier Bühnen lasen und performten »die jungen Wilden des Literaturbetriebes« (mehr als 40 Autorinnen und Autoren) – immer im Zweiergespann und im Stundentakt wechselnd, die Auswahl fiel schwer.

Auftakt in der »Veranstaltungstonne«: Pixel, Plots und Aliens wirbeln durch Jörg Albrechts neuen Roman »Sternstaub, Goldfunk, Silberstreif«. Respektlos, voller Übermut, stürzt sich der junge Dortmunder in eine abenteuerliche Raumfahrtgeschichte, in der der »Invasion der Individualperformer« begegnet werden muss. Videospielterminologie katapultiert die Protagonisten durch deutsche Geschichte, internationale Musikgeschichte (ist Ziggy Stardust tatsächlich ein Außerirdischer?) und gerät zur technophilen Space-Opera, die den gehetzten Zuhörer atemlos zurücklässt.

Beschaulicher geht es zu in den oberen Stockwerken. Michael Hametner, MDR-Literaturkritiker und Juror für den Preis der Leipziger Buchmesse, kündigt augenzwinkernd den 40-jährigen »jungen Wilden« Jo Lendle mit seinem Debütroman »Die Kosmonautin« an. Zeit für ruhige Atemzüge. Eine Mutter tritt für ihren toten Sohn die Reise zum Mond an und muss dafür durch die Weiten der kasachischen Steppe zum Kosmodrom. Exakte Orts- und Gefühlsbeschreibung, ohne ins Sentimentale abzukippen. Lendle, seineszeichens Lektor und Programmleiter Belletristik bei DuMont, weiß, was er vermeiden muss, und liefert eine eindringliche Geschichte der Sehnsucht und Sehnsüchte.

Wahrlich, den jungen deutschen Schreibern »kann niemand den Vorwurf machen, nicht raus in die Welt zu gehen« (Hametner). Das stellt auch Christiane Neudecker unter Beweis, in deren Roman »Nirgendwo sonst« ein Mann mit ostdeutscher Vergangenheit einer Frau hinterherreist, ausgerechnet durch Burma. Ein genauer Blick und dichte, eindringliche Sprache vermitteln der Zuhörerschaft die klaustrophobische Enge einer bedrohlichen Diktatur.

Gewohnt gut: Ricarda Junge, die von einer Todgeweihten und deren Lebenssehnsucht berichtet, ein Hotel als männerlose Insel installiert und Frauen hochhackige Stiefel tragen lässt, damit sie nicht weglaufen können. Überraschend, witzig, charismatisch: Thomas Pletzinger, der Gewinner der MDR-Literaturpreises 2006, mit seinem gelobten Debütroman »Bestattung eines Hundes«.

Dass der schreibende »Nachwuchs« eigentlich bereits im Literaturbetrieb angekommen ist, steht an diesem Abend außer Frage. Dem Leipziger Literaturinstitut entstammen viele der Lesenden dieses Abends. Der Berliner Wettbewerb »Open Mike« ist ein weiterer Garant für ausgewählte Literatur. Renommierte Verlage haben sich die Talente größtenteils längst untereinander aufgeteilt.

Und wenn es immer noch eines Beweises bedarf – gut. Auch der gelingt und kommt in Gestalt des frisch gekürten Trägers des Preises der Leipziger Buchmesse: Auftritt Clemens Meyer. Der hat in der Leipziger Moritzbastei natürlich ein sattes Heimspiel. Der Raum ist überfüllt. Sein Buch »Die Nacht, die Lichter«, aus dem er lesen soll, wird ihm aus dem Publikum gereicht. Wasser, Taschentücher – alles bereit für den, der es tatsächlich geschafft hat, den Literaturbetrieb aufzumischen. Zu Recht, wie seine Beispielgeschichte beweist, die den Zuhörer erst lachen macht und dann mit zugeschnürtem Herzen sitzen lässt. Abgang: Clemens Meyer.

Gegen den lärmigen Auszug des Lokalmatadors und seines Gefolges muss Lucy Fricke, Mitorganisatorin der ersten Langen Lesenacht, gewaltig anlesen mit ihrer leisen und intensiven Geschichte einer jungen Frau, die durch das gesellschaftliche Raster gefallen ist. Der Kreis schließt sich. Die, die einst die Lesenacht initiierten, um den Jungen und sich selbst ein Forum zu geben, sitzen jetzt auf der Bühne und machen den Nachkommenden Mut: Schreiben will gelernt sein und lohnt sich allemal.

Jörg Albrecht: Sternstaub, Goldfunk, Silberstreif. 231 S., Wallstein Verlag, 19,90 EUR.

Jo Lendle: Die Kosmonautin. 192 S., Deutsche Verlagsanstalt, 16,95 EUR.

Christiane Neudecker: Nirgendwo sonst. 272 S., Luchterhand Literaturverlag, 17,95 EUR.

Ricarda Junge: Eine schöne Geschichte. 256 S., S. Fischer Verlag, 17.90 EUR.

Thomas Pletzinger: Bestattung eines Hundes. 352 S., Kiepenheuer & Witsch, 19,95 EUR.

Clemens Meyer: Die Nacht, die Lichter. 272 S., S. Fischer Verlag, 18,90 EUR.

Lucy Fricke: Durst ist schlimmer als Heimweh. 192 S., Piper Verlag, 16,90 EUR.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal