nd-aktuell.de / 17.03.2008 / Politik / Seite 1

Anhaltende Spannungen in Tibet

Exil-Kreise sprechen von 100 Opfern bei Aufständen, Peking vermeldet zehn Tote

Daniel Kestenholz, Bangkok
Die Gewalt in Tibet nach den heftigsten anti-chinesischen Protesten in Tibet seit 1989 eskaliert. Am Sonntag soll es erneut Tote gegeben haben, die Proteste der Mönche weiteten sich aus. Nach Regierungsangaben kamen bei den Unruhen am Freitag zehn Menschen ums Leben. Anwohner in Lhasa und Exil-Kreise sprachen von bis zu 100 Opfern.

Nach den schweren Unruhen in Tibet weisen die chinesischen Behörden ausländische Nichtregierungsorganisationen aus dem Hochland aus. Ein Mitarbeiter in Lhasa berichtete der »Frankfurter Rundschau« am Sonntag: »Alle Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisationen sind angewiesen worden, Lhasa bis spätestens Montag zu verlassen.«

An diesem Montag endet um Mitternacht auch die Frist, bis zu deren Ablauf sich die Anführer der Unruhen der Polizei stellen sollen, wenn sie noch mit Nachsicht und Strafminderung rechnen wollen. Es wurde befürchtet, dass die Polizei nach Ablauf der Frist und der Abreise der Ausländer massiv gegen die Tibeter vorgehen werde. »Dann werden die Sicherheitskräfte zuschlagen«, meinte der Mitarbeiter.

Tibets exilierter Führer, der Dalai Lama, den Peking als Rädelsführer hinter den Unruhen ausgemacht hat, warf den Chinesen »Völkermord« vor. Tibeter gälten als »Bürger zweiter Klasse«, so der Dalai Lama, der eine internationale Untersuchung zu den Vorfällen forderte, die von Peking als die »sorgfältige Planung reaktionärer separatistischer Kräfte« verurteilt wurden – so auch das Hissen der verbotenen tibetischen Nationalflagge in Lhasa.

Die chinesischen Machthaber beschuldigen die »Dalai Clique« um den exilierten Dalai Lama, das spirituelle Oberhaupt der Tibeter, als Rädelsführer hinter den Unruhen, bei denen »Unschuldige« ums Leben gekommen seien. Das Staatsfernsehen CCTV strahlte am Wochenende Bilder von brennenden Autos in Lhasa aus.

Während Peking Separatisten den »Krieg des Volkes« erklärte, nannte der Dalai Lama die Proteste nichts als jahrelang angestauter Hass gegen die Besatzer, der sich entladen habe – und mit der Härte Pekings noch verstärkt würde: Nach einem von Radio Free Asia interviewten Augenzeugen seien am Freitag bei Lhasas Zentralgefängnis Drapchi 26 bei den Unruhen verhaftete Tibeter standrechtlich erschossen worden. Im Ganden-Kloster hätten sich vier Mönche bei lebendigem Leib verbrannt, während chinesische Verwaltungsgebäude und auch das ehrwürdige Ramoche Kloster schwere Zerstörungen erlitten.

Tibets Hauptstadt wirkte am Wochenende wie eine Geisterstadt nach den Gewalttaten von Tibetern gegen zugewanderte Chinesen, die längst Tibets Mehrheitsbevölkerung ausmachen. Lhasa war damit beschäftigt, Autowracks von den Straßen und den Schutt von in Brand gesteckten Gebäuden ethnischer Han-Chinesen wegzuräumen. Panzer und Militärfahrzeuge sicherten Kreuzungen, die Stadt blieb Sperrzone für ausländische Touristen. Demonstranten waren lange keine mehr zu sehen nach der blutigen Niederschlagung von fast einwöchigen Protesten, die am letzten Montag als Friedensmärsche von Mönchen begonnen hatten. Sie erinnerten damit an die Flucht des Dalai Lama aus Tibet vor genau 49 Jahren. Doch im Tagesverlauf kam es erneut zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften und Toten.

Den internationalen Aufrufen zur Deeskalation schlossen sich auch deutsche Politiker an. In einem fast einstündigen Telefonat mit Chinas Außenminister Yang Jiechi am Sonntag sagte sein deutscher Kollege Frank-Walter Steinmeier dem Auswärtigen Amt zufolge, die Bilder der Zerstörung und die »zutiefst bedauerlichen Nachrichten über Tote und Verletzte« zeigten, dass Gewalt keine Lösung der Probleme sein könne. Steinmeier appellierte an Yang, »größtmögliche Transparenz« über die Ereignisse in Tibet herzustellen. Der Obmann der Fraktion DIE LINKE im Auswärtigen Ausschuss, Wolfgang Gehrcke, appellierte »an alle Beteiligten des Konflikts, zur Gewaltfreiheit zurückzukehren.« Gestern fanden die weltweiten Appelle jedoch noch kein Gehör.