Kein Willkommen

Filmfestival »Crossing Europe« in Linz

  • Heinz Kersten
  • Lesedauer: 4 Min.
Szene aus »Welcome Europe« von Bruno Ulmer Fotos: Festival
Szene aus »Welcome Europe« von Bruno Ulmer Fotos: Festival

Welcome Europa« hieß ein Beitrag beim diesjährigen Filmfestival »Crossing Europe« in Linz. Im Gegensatz zum passenden Motto des Kinoereignisses ist der Titel des Film allerdings ironisch gemeint. Die Protagonisten dieser Dokumentation waren in Europa alles andere als willkommen. Zehn »Wirtschaftsflüchtlinge« begleitete der französische Regisseur Bruno Ulmer auf ihrer Odyssee durch Spanien bis in die Niederlande. »Ich erwarte das Paradies, aber hier ist die Hölle«, fasst ein daheim durch schöne Fernsehbilder geblendeter junger Marokkaner seine Erfahrungen in der Fremde zusammen. Und ein in der Türkei gefolterter Kurde möchte lieber tot sein, als sich auf dem Strich zu verkaufen. Manchen bleibt nichts anderes übrig oder sie stehlen, um nicht zu hungern. Arbeiten wollten alle, Geld verdienen und dies der Familie nach Hause schicken. Aber ohne Papiere gibt es keine Arbeit. Sie schlafen auf der Straße oder zwischen Pappkartons unter einer Brücke, wenn sie nicht mal von einer Wohlfahrtsorganisation ein Bett und eine Mahlzeit bekommen. Wer diesen Film gesehen hat, blickt vielleicht mit anderen Augen auf ihm fremd und suspekt erscheinende Gestalten, denen er mit ablehnenden Vorurteilen begegnet.

Das Festival trug dazu auf vielerlei Weise bei. Um einen jungen marokkanischen Flüchtling ging es auch in dem italienischen Wettbewerbsbeitrag »Riparo« von Marco Simon Puccioni. Anis hat sich im Kofferraum des Autos zweier junger Frauen versteckt, die von einem Nordafrika-Urlaub heimkehren. Als er seinen Onkel nicht finden kann, bietet ihm eine der Beiden eine Bleibe in der eigenen Wohnung und verschafft ihm Arbeit in der Fabrik ihrer Familie. Doch Probleme sind voraussehbar. Der aus ganz anderen kulturellen Traditionen kommende junge Araber bringt zunehmende Konfusionen in das lesbische Liebesverhältnis des Freundinnenpaares. Am Ende ist für alle nichts mehr, wie es war.

Entfremdung und Identitätssuche treibt einen Algerier von Anfang Dreißig ziemlich ruhelos durch Paris, bis er seinen Seelenfrieden am surreal-poetischen Ende in Sevilla zu finden scheint – wohl nicht ohne Grund: Schließlich sind hier noch die Spuren historischer arabischer Kultur lebendig. Freilich muss man sich vieles aus dem Bewusstseinsstrom des Protagonisten in dem Film »Andalucia« von Alain Gomis selbst zusammenreimen. Nicht nur ästhetische Verwandtschaft hierzu war im griechischen Beitrag »Diorthosi« von Thanos Anastopoulos zu entdecken. Auch hier streift ein Mann gleichen Alters durch eine Stadt. In diesem Fall ist es Athen, und er sucht nach Entlassung aus dem Gefängnis Anschluss an seine Vergangenheit. In deren Hintergrund steht die Feindschaft zwischen Griechen und Albanern. Die Jury hielt die wortarme Milieustudie einer lobenden Erwähnung würdig.

Experimentelles hat bei der Auswahl für den Wettbewerb erster und zweiter europäischer Langspielfilme in Linz gute Karten, was auch der von vier verschiedenen Regisseuren inszenierten lettische Episodenfilm »Vogelfrei« bewies. Der Crossing Europe Preis ging, wie schon vor zwei Jahren, an die 25-jährige französische Regisseurin Isild Le Besco. »Charly«, die Titelfigur ihres Gewinnerfilms, ist eine junge Gelegenheitsprostituierte, bei der ein von seinen Pflegeeltern ausgerissener 14-Jähriger eine Zeitlang Quartier und Verständnis findet.

Jugendliche spielten neben Immigranten in vielen Filmen eine Hauptrolle. Im Spielfilmdebüt »Regarde-moi« der auch erst 25-jährigen Audrey Estrougo sind es schwarze und weiße Jungen- und Mädchencliquen in der Pariser Vorstadt Colombes. Sie alle denken immer vor allem an das Eine, und aus Frustrationen entwickeln sich Aggressionen. Man spürt, wie genau die Regisseurin das Milieu kennt: Sie selbst zog im Alter von 13 Jahren in die Außenbezirke der französischen Metropole.

Realitätsnähe zeichnete die meisten der rund 150 Festivalbeiträge aus 32 Ländern aus. Als deutsche Beispiele in der Reihe »Arbeitswelten« standen dafür Thomas Heises Halle-Neustadt-Dokumentationen »Stau – Jetzt geht’s los« und »Kinder, wie die Zeit vergeht« sowie Elke Haucks Riesaer Spielfilm »Karger«. Heutige Wirklichkeit in Sarajevo spiegelt sich in »Tesko Je Biti Fin« von Srdan Vuletic, zugleich ein Exempel für die zunehmende filmische Zusammenarbeit in Europa: Es coproduzierten Bosnien und Herzegowina, Deutschland, Großbritannien, Slowenien und Serbien. »It’s hard to be nice«, wie der englische Titel lautet, erfährt ein kleiner Taxifahrer, der seine Schuld bei einem gewalttätigen Schwarzmarkthändler tilgen und auch noch seine Ehe kitten muss.

Bemerkenswert aus Osteuropa auch der versöhnliche, aber ungeschönte Blick auf den Tschetschenienkonflikt im neuen Film von Alexander Sokurov »Alexandra«. Die Großmutter eines in der umstrittenen Kaukasusregion stationierten Offiziers erhält die Erlaubnis, ihren geliebten Enkel aus Moskau dort zu besuchen, und gewinnt dabei neben einem Einblick in den Soldatenalltag auch die Freundschaft einer gleichaltrigen Tschetschenin.

Linz: dazu gehörten auch zahlreiche Baustellen, die daran erinnerten, dass man sich 2009 als Europäische Kulturhauptstadt präsentieren wird. Natürlich gehört Kino dazu. In nur fünf Jahren hat es »Crossing Europe«-Direktorin Christine Dollhöfer bereits geschafft, Linz auch als nicht mehr zu übersehende gute Filmfestival-Adresse zu etablieren.

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