Fünfundachtziger

H. E. Richter – ein sozialer Mahner

  • Günter Frech
  • Lesedauer: 3 Min.

Als bekannt wurde, dass der »mächtigste Betriebsratschef der Republik«, Klaus Volkert, in den VW-Skandal um Lustreisen verwickelt ist, wurde Horst Eberhard Richter (Foto: privat) gefragt, ob es ein profundes Mittel gäbe, ein solches »Abheben« zu verhindern. »Im Kapitel ›Selbstaufgabe in Raten‹ meines Buches ›Flüchten oder Standhalten‹ können Sie alles nachlesen«, antwortete der Psychoanalytiker. Das Buch erschien 1980 und hier geht Richter der Frage nach, wodurch der Mensch eingeschüchtert wird und wie er sich dagegen wehren kann. Er reflektiert das Spannungsverhältnis zwischen Chefs und Untergebenen. Dabei konnte er sich auf seinen Erfahrungsschatz als Direktor des Zentrums für Psychosomatische Medizin am Universitätsklinikum Gießen stützen. »Die Übernahme einer Leitungsfunktion darf die Klientenarbeit nie vollständig verdrängen«, so sein Credo. Dies schütze den Chef zudem »vor einer zu großen Entfremdung von den Mitarbeitern an der Basis«, schreibt er »Flüchten oder Standhalten«. Und was er hier für Berufe im sozialen Bereich sagt, »können Sie für so gut wie jede andere Tätigkeit verallgemeinern«.

Fehlt also der Bezug zur Basis, neigen Chefs, Manager, Bundestagsabgeordnete oder Betriebsratsvorsitzende dazu, abzuheben – so Richters Fazit. Damit Führungspersönlichkeiten das auch erkennen, brauchen sie viel Mut, um sich hin und wieder selbstreflektierend sinnbildlich neben sich zu stellen. Auch dazu ermutigt Richter die Menschen. Ebenso ermutigt er dazu, unsere Verfügbarkeit und die uns »verführenden Autoritäten« zu kontrollieren.

Richter, 1923 in Berlin geboren, hatte nach Kriegsteilnahme und Gefangenschaft Medizin, Philosophie und Psychologie studiert. 1962 übernimmt er an der Uni Gießen einen der ersten deutschen Lehrstühle für Psychosomatik und baut die Abteilung zu einem führenden Zentrum für psychosomatische Medizin auf. Seine ersten Bücher werden zu international anerkannten Klassikern, in denen Richter ein neues Verständnis familiär verursachter Neurosen erarbeitet. Für Richter ist Psychoanalyse nicht nur eine tiefenpsychologische Behandlungsmethode, sondern vor allem ein Instrument der Aufklärung einer sich sozialanalytisch begreifenden Wissenschaft von Mensch und Gesellschaft. Allein 1972 bis 1981 schreibt er die fünf Bücher, die diese neue Ära seines ganzheitlichen Konzeptes von Psychoanalyse einleiteten.

Der Aufbruch der Studentenbewegung Mitte der Sechziger Jahre verleiht seinem Handeln wichtige Impulse. Gestützt auf kompetente Vertreter in der Klinik, verlässt Richter nun immer öfter seinen dort angestammten Platz, um mit sozialen Randgruppen zu arbeiten, mit Schülern und Studenten zu diskutieren und an Demonstrationen und Sitzblockaden teilzunehmen. In den Achtzigern gehört er zu den wichtigsten Aktivisten und Impulsgebern der Friedensbewegung. Richter ist Mitbegründer der bundesdeutschen Sektion der internationalen Vereinigung der Ärzte gegen den Atomkrieg (IPPNW), deren Ehrenpräsident er ist. Die Vereinigung erhält 1985 den Friedensnobelpreis. Nach dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999 wird die Friedensbewegung von den Medien für tot erklärt, trotz Demonstrationen und Proteste. Richter und seine Mitstreiter beweisen, dass die Friedensbewegung in Deutschland sich gewandelt hat – aber keineswegs gestorben ist.

Richter war 1997 auch Mitinitiator der Erfurter Erklärung, in der es u. a. heißt: »Im fünften Jahrzehnt ihrer Existenz wird in der Bundesrepublik der soziale Konsens, auf dem ihr Erfolg beruhte, durch radikale Umverteilung zugunsten der Einfluß-Reichen zerstört. Der kalte Krieg gegen den Sozialstaat hinterlässt eine andere Republik. Was von der Bundesregierung unter der Vorspiegelung von Reformen verfügt wird, erweist sich als geistig-moralischer Bankrott.«

Gestern ist Richter in sein 86. Lebensjahr eingetreten.

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