Umverteilung allein reicht nicht

Streitschrift liefert Fakten und Denkanstöße für die Prekariatsdebatte

Die soziale Spaltung ist laut einer neuen Streitschrift weiter vorangeschritten, als in der Debatte über das Prekariat bisher diskutiert wurde.

Der französische Soziologe Pierre Bourdieu brachte es 1998 in seinem Essayband »Gegenfeuer« auf den Punkt: »Prekarität ist überall.« Seitdem ist der Begriff weder aus der Wissenschaft noch aus der Politik wegzudenken. Stetig neue Veröffentlichungen erscheinen auf dem deutschen Büchermarkt, welche die These des 2004 verstorbenen Franzosen mit neuen Argumenten belegen. Der Leipziger Rechts- und Sozialwissenschaftler Ekkehard Lieberam, Sprecher des Marxistischen Forums in der sächsischen LINKEN, trägt mit der Veröffentlichung einer Broschüre, die das Bourdieu-Zitat im Titel trägt, Wesentliches zu dieser Debatte bei. Detailliert und mit einer Fülle empirischen Materials verdeutlicht er die Klassenstrukturen der bundesdeutschen Gesellschaft.

Ausgangspunkt der Streitschrift ist die Studie »Gesellschaft im Reformprozess« der SPD-nahen Frie-drich-Ebert-Stiftung vom Oktober 2006. Diese zählt etwa acht Prozent der Bundesdeutschen zu der Kategorie »abgehängtes Prekariat«, das von »sozialem Ausschluss und Abstiegserfahrungen« geprägt sei. Laut Lieberam hatte die Untersuchung nicht die Intention, »die sozialen Spaltungen aufzudecken, sondern gezielt die ›Reformbereit-schaft der Deutschen‹ zu untersuchen«. Dennoch mache sie auf die »dramatische soziale Verunsicherung« aufmerksam. Der Begriff »Prekariat« werde jedoch zu eng gefasst – Lieberam rechnet rund 25 Prozent der Ostdeutschen dem Prekariat zu. In der Bundesrepublik zählten hierzu rund zwölf Millionen Menschen, insbesondere Einzelhaushalte, Arbeiterfamilien mit mehren Kindern und Familien mit Migrationshintergrund.

Die Charakteristika der heutigen Gesellschaft seien anhaltende Massenarbeitslosigkeit und eine stetig wachsende Armut. Die Bundesrepublik befinde sich in einer »gesellschaftlichen Umbruchsituation«, die mit einer »regelrechten Zäsur in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Kapitalismus einhergeht«. Dieser Prozess zeichne sich seit dem Ende des »Goldenen Kapitalismus« Anfang der 70er Jahre ab und habe sich mit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus noch verschärft. »Es wird zu Recht von sozialer Demontage, vom Einreißen des sozialstaatlichen Gebäudes oder von der Krise des Sozialstaates, aber auch von einer Wiederkehr der Klassenfronten und der Klassengesellschaft gesprochen«, so der Autor.

Die prekär Beschäftigten, meist in einem Leih- oder Teilzeitverhältnis arbeitend, unterliegen einem enormen Druck. Durch das Zusammenführen von Arbeitslosen- und Sozialhilfe werden sie faktisch erpresst: Entweder sie fügen sich diesen Arbeitsbedingungen oder sie werden durch andere Arbeitnehmer ersetzt. Nach Auffassung von Ekkehard Lieberam sei eine Atmosphäre ständiger Verunsicherung und Angst bei den Beschäftigten die logische Folge.

Um die Klassengesellschaft zu überwinden, hält Lieberam ein Zusammenwirken von Kräften innerhalb und außerhalb der Parlamente für notwendig. Da Prekarität und Armut mit der Kapitalakkumulation zu erklären seien, müsse die Linke nicht nur die Reichtumsverteilung von oben nach unten fordern, sondern den Gegensatz von Kapital und Arbeit grundsätzlich in Frage stellen. »Wenn die Linke in diesem Abwehrkampf gegen Privatisierung, Sozialraub, Reallohnkürzungen und Massenentlassungen nicht ihre Hausaufgaben macht, wird die Ausweitung prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse sich unweigerlich fortsetzen. Sie muss die Machtfrage und nicht die Haushaltsfrage stellen«, so die Schlussfolgerung Lieberams.

Ekkehard Lieberam: Prekarität ist überall – Kritisches zu einer Debatte, edition ost, Berlin 2007, 4,90 ¤.

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