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Der Missbrauchte

Götz Wienold berührt ein Tabuthema

  • Hans Karl Rupp
  • Lesedauer: 2 Min.

Dieser Roman hat es in sich: Er skizziert einen Alltags-mikrokosmos im Übergang vom »alten« zum »neuen«, antifaschistischen Deutschland in einem kleinen Ort in Sachsen. Was wurde aus den Dorfbewohnern, dem Sägewerkbesitzer, dem katholischen Kaplan, den Heranwachsenden? Autobiografisches mischt sich mit Fiktivem. Dabei liegt die Brisanz vor allem in einer zweiten Dimension: Es geht um die Entstehung von späterer Homosexualität durch Missbrauch im Kindesalter. Der kleine Jakob, wird von einem Freund seines antifaschistischen Vaters, dann von dem »von der Front heimaturlaubenden« Sohn des Sägewerksbesitzers und seiner Clique und schließlich sogar vom Sägewerkbesitzer selbst missbraucht. Dazu kommt eine vom Vater erzeugte Furcht vor Kontakten zum anderen Geschlecht. All dies wird eher in Andeutungen dargestellt. Aber gerade die Diskretion des Textes vermittelt das Ungeheuerliche. »So viel Ausgeliefertheit wollten viele Deutsche sich nicht entgehen lassen ... Krieg war Krieg, man hatte es anderen auch schon gezeigt.«

Das Ende der NS-Zeit wird hier nicht, wie oft in der westdeutschen Belletristik – Götz Wienold lehrte Sprachwissenschaft in Konstanz, bevor er nach Tokio ging – als Herrschaft der Besatzer beschrieben. Das Wichtige ist für Jakob die Befreiung von Nazipropaganda und Kirchenmief, die freie Entscheidung für das »neue Deutschland«, das für ihn in der russischen Zone Gestalt annimmt. Mit der Mutter – der Vater war ein paar Tage nach der Befreiung gestorben – geht er zwar in den Westen, kehrt aber als 17-Jähriger nach Sachsen zurück. Allerdings kommt er auch mit der DDR nicht ganz zurecht. Die Schule erlebt er als Befreiung (ob das zur Ulbricht-Zeit wirklich so war?): »Endlich nicht mehr Theodor Körner, Bismarck und den heiligen Geist angepriesen bekommen, tat ihm ... wohl.« Aber in die NVA wird er, er weiß nicht warum, nicht aufgenommen. Immerhin darf er eine Schauspielerausbildung beginnen. Enge Freundschaft verbindet ihn mit einem russischen Soldaten, was zu allerlei Hänseleien und Bösartigkeiten in der Schule führt. Ein Engagement beim Stadttheater Zittau führt in ein unbekanntes, dem Autor entgleitendes Schauspielerdasein ohne weitere Dramatik. Zum Schluss berichten Zeitungen von einer anonymen Schändung des Grabes des 1956 verstorbenen Sägewerkbesitzers. Ob es Jakob war? – Der Wienoldsche eher hingehauchte als ausgeschriebene »Roman« dringt in ein noch immer aktuelles Tabuthema ein – trotz offizieller Political Correctness in der BRD heute, trotz Gleichheitspostulat in der realsozialistischen DDR, wo Homosexualität ja auch diskriminiert war.

Götz Wienold: Großwahrwitz. Aus der Frühgeschichte des neuen Deutschland. Roman. Passagen Verlag. 78 S., brosch., 12 EUR.

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