Ideenklau oder Kreativität

  • Harry Nick
  • Lesedauer: 3 Min.
»Der erste große und systematische, weil staatlich organisierte Ideenklau im Industriezeitalter war eine deutsche Tat.«
»Der erste große und systematische, weil staatlich organisierte Ideenklau im Industriezeitalter war eine deutsche Tat.«

Zu den chinesischen Erfindungen gehören u. a. Geldmünzen, Seidenherstellung, Porzellan, das Prinzip des Raketenantriebs. Produktpiraterie gehört nicht dazu. Berechtigte Klagen hierüber klingen hierzulande mitunter wie eine Schilderung von Nationaleigenschaften: Chinesischer Ideenklau und deutsche Kreativität; chinesischer Pfusch und deutsche Wertarbeit . . . .Gemach!

Der erste große und systematische, weil staatlich organisierte Ideenklau im Industriezeitalter war eine deutsche Tat. Und begangen ausgerechnet von Preußen, das Akkuratesse und Redlichkeit als seine Staatstugenden verstand. Es war die preußische Bergbauverwaltung, die den Bergbaubeamten Bückling nach England entsandte, um die 1769 von James Watt patentierte Dampfmaschine auszuspionieren. Die wurde dann in staatlichen Betrieben in Preußen gebaut und 1786 in Hettstedt im Südharz in Betrieb genommen. Für den reibungslosen Betrieb allerdings musste noch der englische Mechaniker Richards ab- und angeworben werden.

Es ging aber nicht nur um die Dampfmaschine; alle wichtigen Erfindungen, technische Entwicklungen der ersten industriellen Revolution wurden in England gemacht; die Spinnmaschine, der mechanische Webstuhl, die Lokomotive. Was sollten die Deutschen also tun – angesichts ihrer um ein halbes Jahrhundert verspäteten industriellen Revolution, verursacht durch die feudalen Agrarstrukturen und die Schwäche des inneren Marktes?

Ein Jahrhundert später sah die Sache anders aus. Die großen Erfindungen der zweiten industriellen Revolution – Stahlerzeugung, Maschinenbau, Elektrizität, Chemie – wurden vornehmlich in den USA und in Deutschland gemacht. Ich erinnere mich gut, wie in den fünfziger und sechziger Jahren vor allem den Japanern hemmungsloser Ideenklau vorgeworfen wurde. Davon ist inzwischen nichts mehr zu hören. Die »zweite Revolution in der Autoindustrie« ging von Japan aus. Sie bedeutete die Ablösung der auf standardisierter Massenproduktion beruhenden fordistisch-tayloristischen Produktions- und Arbeitsweise durch direkt entgegengesetzte Tendenzen: Flexibilisierung, Variabilität, Individualisierung Beeindruckend auch die japanischen Leistungen in der Automatisierungs- und Robotertechnik sowie in der Elektronik. Das Verhalten der Staaten zu internationalen Vereinbarungen über den Rechtsschutz geistigen Eigentums kann an ihrer Bilanz im Geben und Nehmen geistiger Güter abgelesen werden. Sie treten solchen Abkommen bei bzw. respektieren sie umso mehr, je mehr sie an diesem Austausch gewinnen können. Aber es gibt etwas Weitsichtigere auch hierzulande. »Der Westen kritisiert China als größten Patentdieb – und verkennt die wahre Gefahr: Das Land entdeckt seine eigene Kreativität« schrieb Georg Blume schon vor Jahren in der ZEIT. Noch aber haben auch in dieser Sache Ignoranz und Dummheit die Oberhand. Ausgerechnet der Sprecher der deutsch-chinesischen Parlamentariergruppe im Bundestag, Johannes Pflug (SPD), empfiehlt statt eines Olympiaboykotts einen Wirtschaftsboykott gegen China, .

Im nächsten Jahr wird Deutschland seine Exportweltmeisterschaft wahrscheinlich verlieren, an China. Und es wird an China auch seinen dritten Platz in der Wirtschaftsleistung in der Welt abgeben müssen. Wann endlich werden die Apostel der Globalisierung in ihr nicht nur ein Totschlagargument für Lohndumping sehen? Wann endlich werden wir lernen, in den Leistungen und im Wohlergehen anderer Völker gemeinsamen Gewinn, ja selbst eigenen Vorteil zu erkennen?

Immer freitags: In der ND-Wirtschaftskolumne erläutern der Philosoph Robert Kurz, der Ökonom Harry Nick, die Wirtschaftsexpertin Christa Luft und der Wissenschaftler Rudolf Hickel Hintergründe aktueller Vorgänge.

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