Doppelter Wahnsinn

Arno Surminski schuf ein beklemmendes Zwei-Personen-Stück

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 3 Min.

Grote notierte die Zahl der Blässhühner auf dem Teich hinter dem Verbrennungsplatz, Marek zählte Stockenten. Ein Kleiber lief kopfunter einen Baumstamm herab, ließ sich auch nicht stören, als ein Schuss fiel ... Ich denke, das Schießen ist verboten, wunderte sich Marek. Nur das Schießen auf Vögel, antwortete Grote: »Marek Rogalski war einmal Kunststudent in Krakau. Dann kam der Krieg. Jetzt ist er ein polnischer Lagerhäftling in Auschwitz und möchte nur eins, sobald wie möglich wieder rauskommen. Weil Marek gut zeichnen kann, hat ihn der SS-Wachmann Hans Grote ausgesucht, ihm bei seinen ornithologischen Studien in Auschwitz zu helfen und seine Aufzeichnungen zu illustrieren. Zwei Jahre lang wird Marek zu Grotes ständigem Begleiter im Lagerbereich und im vogelreichen Umland zwischen Sola und Weichsel. Zusammen beobachten die beiden die Wanderwege der Zugvögel, Grote zählt Krähennester, Marek zeichnet Stare, Amseln und Schwalben und präpariert dem SS-Mann einen toten Graureiher. Einmal zeichnet er auch den Galgen mit einem Toten daran, aber das verbietet ihm Grote streng. Im Grunde ist der Deutsche, mit dem ich die Vogelwelt erforsche, ein anständiger Mensch, er könnte keinen Vogel töten, denkt Marek, aber Menschen könnte er töten, wenn es ihm befohlen wird.

Marek ist auf Gedeih und Verderb Grote ausgeliefert, und der braucht ihn, um seinen wissenschaftlichen Ehrgeiz zu befriedigen und um sich die Hände selbst nicht schmutzig machen zu müssen wie die anderen SS-Leute hier. Die beiden Männer, die der Autor in dieser Novelle »zusammengespannt« hat, bilden ein absurdes, so reales wie irreales Paar. Einmal sagt Marek, als über Birkenau schwarzer Rauch aufsteigt: Eben sind sie aus dem Zug gestiegen, und schon sind sie im Krematorium. Da blickt Grote ihn erstaunt an: »Wir leben in einer großen Zeit.« Selten wagt sich Marek mit seinen Äußerungen so weit vor. Über die Motivation dieses Grote erfährt man nur aus Überlegungen des Häftlings.

Schwarzer Hintergrund dieses beklemmenden Zwei-Personen-Stücks, dieser Täter-Gehilfen-Konstellation, ist das grauenvolle Geschehen in den Jahren 1940 und 1941, als Birkenau gebaut, Ausch-witz zum Massenvernichtungslager, zum »Schuttabladeplatz Europas« und am Ende zum Totenreich wird. Als das erste Zyklon B geliefert wird, hat Grote seine Arbeit abgeschlossen und sich einen wärmeren Vogelbeobachtungsposten auf der Krim gesichert. Rogalski bleibt und lernt, so unauffällig wie möglich zu überleben. Für sich selbst zeichnet er nur noch Krähenbilder, Krähen auf dem Lagertor, auf dem Galgen, auf dem Lagerzaun und auf den Wachtürmen, schwarze Vögel, Seelen der Toten.

Knapp 200 Seiten umfasst diese unerhörte Geschichte der beiden Männer in dieser Hölle, diesem fast lapidar geschilderten Auschwitz-Alltag ringsum. Kann sich ein Autor Arno Surminski so Undenkbares ausdenken? Nein! Können sich Menschen so Unmenschliches ausdenken! Ja! Denn diesen Ornithologen, der 1940 bis 1941 als SS-Obersturmbannführer im Auftrag von Lagerkommandant Höß die Vogelwelt von Auschwitz erkundete, gab es. Seine »Beobachtungen über die Vogelwelt von Auschwitz« sind heute noch nachlesbar, und er selbst wurde nach dem Krieg ein angesehener Wissenschaftler. Das ist der doppelte Wahnsinn dieser Geschichte. Der Autor versucht, ihn in Worte zu fassen. Es ist kein Wort zu viel.

Arno Surminski: Die Vogelwelt von Auschwitz. Eine Novelle. Verlag Langen Müller. 191 S., geb., 17,90 EUR.

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