Verspätete Presseschau

Ein Wahrsager, die SVZ und der OB-Sessel von Schwerin

  • Peter Pagel, Schwerin
  • Lesedauer: 3 Min.
Derzeit ist so manches über Versagen und Schoten von Norbert Claussen, den die Schweriner am 27. April 2008 aus dem Amt gewählt haben, zu erfahren. Warum aber hatten sie ihn im April 2002 frei gewählt? Oder waren sie gar nicht so frei in ihrer Entscheidung? Vieles spricht für eine gehörige Manipulation durch Medien und Politik. Darum sei hier eine Presseschau aus den Apriltagen 2002 nachgereicht.

Man muss zunächst wissen, dass sich damals acht Kandidaten um das OB-Mandat bemühten. Aussichtsreichster Kandidat war der Linke Gerd Böttger. Aus der Wahl am 14. April ging er mit 34,8 Prozent als Gewinner hervor; Norbert Claussen (CDU) erhielt 28,9 Prozent. In den folgenden 14 Tagen ging es um die Wurst. Claussen wurden nicht so große Chancen gegen den bodenständigen Böttger eingeräumt. Die Medien wussten Rat. Sie bedienten nicht die Frage, wer gewählt werden sollte, könnte, sondern wer nicht gewählt werden sollte, dürfte.

Insbesondere tat sich die »Schweriner Volkszeitung« (SVZ) hervor, die in Schwerin konkurrenzlos war und ist. Am Dienstag, dem 9. April, hatte sie bereits den geschmacklosen Höhepunkt gesetzt (siehe Ausriss). Da wurde Rei Souli, zum Starastrologen und Parapsychologen geadelt, der auf Europatour in Schwerin haltgemacht hatte, vom Chef der Stadtredaktion der SVZ nach den OB-Wahlen befragt. Nach Analyse der Geburtsdaten der Kandidaten sagte er prophetisch: »Schwerin wird einen starken wirtschaftlichen Aufschwung erfahren …« Und er war sich ziemlich sicher: Norbert Claussen wird gewinnen, »er ist ein sehr aktiver Mensch«. Über Gerd Böttger wusste er zu sagen: »Er ist dynamisch und sozial eingestellt … Allerdings lebt er ab und an auch über seine Verhältnisse.« An dieser Propheterie war nun wirklich alles falsch, auch die Wahlaussage, denn die war wohl doch gedeichselt.

Gerd Böttger war zu DDR-Zeiten Kreissekretär der Nationalen Front. Folglich wurde er zu Wahlfälschungen vergangener Jahre befragt, was ihn nicht in Verlegenheit brachte, aber ein Hinweis für die Wähler war. In der ständigen Rubrik »Gedanken zur Woche« nutzte Domprediger Andreas Weiß gleich zweimal die Gelegenheit. Am 15. April schrieb er noch zurückhaltend: »Hüten wir uns vor einer falschen Verklärung der Vergangenheit«. Am 22. April schrieb er Klartext: »Prüfen wir die Kandidaten. Sind sie ›redliche Leute‹? Vielleicht, wir wollen es hoffen. Sind sie ›gottesfürchtig‹? Zum Teil, Herr Böttger bestimmt nicht ... Ob es etwas gibt, wovor er Ehrfurcht hat, ist mir nicht bekannt. Seine Einstellung zu diesen Fragen hat sich nicht geändert, seit den Tagen, da er in der DDR politisch aktiv war.« Und auch Unternehmer hielten mit. In einer großen Anzeige am 14. April verkündeten sie: »Schweriner Unternehmer zur OB-Wahl klar für Arbeitsplätze – klar gegen Böttger!« So wurden also Bürger verleitet und konnten sich erst fünf Jahre später korrigieren. Und die fünf inserierenden Unternehmer waren leider dann ja auch die Gelackmeierten.

Es muss deutlich gesagt werden, dass die Wähler 2002 gehörig manipuliert wurden, einen Kandidaten zu wählen, der von seiner Vergangenheit, seiner Erfahrung, seinem Charakter her nicht als OB geeignet war, trotzdem hatte ihn die CDU durchgedrückt. Die CDU-freundliche »Schweriner Volkszeitung« war wohl die politische Hauptstütze Claussens. Wie können Wahlen aber frei sein, wenn die Medien nicht objektiv agieren?

Es ist aber anzunehmen oder zumindest gut möglich, dass die nun geläuterten Wähler sich künftig nicht auf der Nase herumtanzen lassen.

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