Eine Brücke ins Leben

Die Kriegsgefangenen-Zeitung »Die Brücke« half vor 60 Jahren vielen jungen Deutschen beim Neuanfang

  • Harri Czepuck
  • Lesedauer: 9 Min.
Den Tag der Befreiung am 8. Mai 1945 erlebten viele junge Deutsche fern der Heimat. Hunderttausende waren als Wehrmachtssoldaten in Kriegsgefangenschaft geraten. Für sie begann ein schwieriger Weg – aus einem mörderischen Krieg in eine friedliche Zukunft, aus einer Niederlage in einen Neuanfang, aus Schuld und Verstrickung zum Nachdenken über eigene Verantwortung. Den 40 000 in Polen Internierten half dabei eine Zeitung von Gefangenen für Gefangene: »Die Brücke«. Unser Autor Harri Czepuck war selbst Kriegsgefangener in Polen und einer der »Brücke«- Redakteure. Später wurde er Journalist und u.a. stellvertretender Chefredakteur des »Neuen Deutschland«.
Eine Brücke ins Leben

In diesen Tagen könnte eine kleine, aber bemerkenswerte deutsche Zeitung ihren 60. Geburtstag feiern. Diese Zeitung war, von der breiten Öffentlichkeit allerdings kaum bemerkt, im Frühjahr 1948 in Polens Hauptstadt ins Leben getreten. Nachdem sie ihre Pflicht und Schuldigkeit getan hatte und ihre Aufgabe als erfüllt ansah, war sie – ebenso wenig bemerkt – auch wieder verschwunden.

Dennoch: In den 15 Monaten zwischen Mai 1948 und August 1949, in denen 25 Ausgaben erschienen, war sie ihren etwa 40 000 Lesern das, was sie in ihrem Titel »Die Brücke« zu sein, versprach. In ihrem kurzen Leben hat sie mehr für die deutsch-polnische Aussöhnung und eine gute Nachbarschaft getan, als man andernorts, vor allem in der Altbundesrepublik, bis heute wahrhaben will, weil man eigene Beiträge auf diesem weiten Feld in Jahrzehnten versäumt hat. Wir erleben die Folgen bis auf den heutigen Tag.

Es war eine Zeitung, von deutschen Kriegsgefangenen für deutsche Kriegsgefangene in Polen gemacht, die Brücke sein wollte und sollte – zwischen den zeitweilig von der Öffentlichkeit vergessenen ehemaligen deutschen Wehrmachtsangehörigen, die in polnischen Lagern an einer bescheidenen Wiedergutmachung arbeiteten, und ihrer deutschen Heimat. Sie war eine Brücke zwischen den verschiedenen Kriegsgefangenen- bzw. Arbeitslagern in Polen. Sie war nicht zuletzt auch eine Brücke zwischen Deutschen und Polen, die sich in ihrer Geschichte – meist durch deutsche Schuld – nicht sehr viel Gutes angetan hatten.

Erst die Befreiung von der Nazidiktatur durch den opferreichen Kampf der Anti-Hitler-Koalition, vor allem der Sowjetunion, schuf eine gewisse Voraussetzung für eine positive Wandlung im deutsch-polnischen Verhältnis. Das wird gegenwärtig von gewissen Kräften zwar heftig bestritten. Die heute einen ahistorischen Einfluss ausübenden Geschichts- und Geschichtenschreibenden möchten gern über die Zeit zwischen 1945 und 1990 einen Mantel des Schweigens hängen. Doch Geschichte ist nun mal Geschehenes und kann nicht wegkommandiert werden.

Lebenshilfe für 40 000 Menschen
Deshalb ist »Die Brücke« ist ein ziemlich verlässlicher Zeitzeuge gegen die Totalitarismustheoretiker, wenn es darum geht, wer, wann und wo etwas für die deutsch-polnische Aussöhnung zu tun begonnen hat. Dazu gehörte, zwischen Deutschen und Polen auch Missverständnisse aus dem Weg zu räumen.

Ein Beispiel dafür war die Klärung der Kriegsgefangenenfrage überhaupt. Während in den Westzonen dieses Kapitel im Kalten Krieg vor allem gegen Polen als Munition benutzt wurde, suchte in der Sowjetischen Besatzungszone die SED eine humane Lösung für alle deutschen Kriegsgefangenen.

Was war geschehen? In Potsdam hatte sich die Antihitlerkoalition auf verbindliche Festlegungen für die Nachkriegszeit geeinigt. Darunter befand sich das polnische Problem mit dem von allen vier Mächten gebilligten, besonders aber von der britischen Seite geförderten Standpunkt zur neuen polnischen Westgrenze – mit allen Konsequenzen, die bis heute politischen Ärger verursachen. Das hing auch damit zusammen, dass sich eine der beiden polnischen Exilregierungen in London niedergelassen hatte, die nachdrücklich die Verschiebung der Westgrenze verlangte. Deshalb war der britische Premier Churchill einer der heftigsten Verfechter sowohl der neuen Grenze als auch der Umsiedlung verbliebener deutscher Minderheiten.

Zu den Problemen gehörte auch die Frage der Reparationen an die von der Naziarmee besonders verwüsteten Länder, also auch an Polen und die Sowjetunion. Die UdSSR erklärte sich bereit, einige deutsche Reparationsleistungen mit Polen zu teilen. Dazu gehörte das Angebot, die von der Roten Armee verwalteten Lager mit deutschen Kriegsgefangenen, die sich auf dem seit August 1945 festgelegten polnischen Staatsgebiet befanden, in den Dienst der Wiedergutmachung vor allem in den oberschlesischen Steinkohlengruben zu stellen. Man darf nicht vergessen, dass in Polen ein gewisser Arbeitskräftemangel herrschte. Sechs Millionen Polen, ein Viertel der Bevölkerung, waren als Todesopfer zu beklagen. Hunderttausende arbeitsfähiger Polen lebten noch in der Emigration und harrten der Repatriierung.

Dass aus heutiger Sicht dadurch ein rechtsfreier Raum entstand, hängt auch damit zusammen, dass Deutschland am 8. Mai 1945 bedingungslos kapituliert, das heißt vor allem keine Ansprüche an die Geschichte zu stellen hatte. Das aber wurde ausgerechnet von den deutschen Kriegsverursachern und ihren Rechtsnachfolgern vergessen und bestritten. Auch nach über 60 Jahren wird die großdeutsche Sichtweise vehement fortgesetzt.

In dieser Lage befanden sich etwa 40 000 ehemalige Wehrmachtsangehörige auf polnischem Gebiet. Und während in den Westzonen gegen diesen für die Betroffenen nicht angenehmen Zustand gehetzt wurde, entschloss sich die SED-Führung, mit ihrer polnischen Bruderpartei über dieses humane Problem zu verhandeln. Sie erreichte, dass die 40 000 ehemaligen Wehrmachtangehörigen nicht mehr als eine Art Zwangsarbeiter, sondern als Kriegsgefangene nach der Genfer Konvention anerkannt und ab 1947/48 auch behandelt wurden. Übrigens hat das nicht ein einziger westdeutscher Historiker untersucht, sondern neben DDR-Historikern, die damit allerdings nicht an die Öffentlichkeit treten konnten, lediglich der junge polnische Historiker Jerzy Kochanowski, dessen Arbeit 2001 im Warschauer Verlag Neriton unter dem Titel »In polnischer Gefangenschaft Deutsche Kriegsgefangene in Polen 1945-1950« in einer Auflage von 500 Exemplaren erschien.

Freilich ist die Arbeit Kochanowskis selbst von jenem Mainstream geprägt, der seit 1990 die Geschichtsschreibung über die Zeit von 1945 bis 1990 auch in Polen außerordentlich beeinflusst – unter Anleitung des Deutschen Historischen Instituts in Warschau, gesponsert von der Adenauer-Stiftung. Nichtsdestoweniger befasst sich auch Kochanowski mit der Existenz und der Arbeit der Zeitung »Die Brücke«, manchmal im Widerstreit zwischen Sachlichkeit und antikommunistischer Geschichtslesart.

Die Zeitung entstand Anfang Mai 1948, nachdem die Verhandlungen zwischen SED und zunächst der PPR, später der PVAP über die weitere Behandlung der deutschen Kriegsgefangenen abgeschlossen waren. Dabei wurde auch die Frage nach den Entlassungen geklärt, die zwischen Ende 1948 bis Ende 1949 abgeschlossen sein sollten.

Die SED schickte einen ständigen Vertreter nach Warschau entsandt. Das war Karl Wloch, bis 1933 Redakteur der »Roten Fahne«, KZ-Häftling im Moorlager Esterwegen, der schließlich als Angehöriger der Wehrmachts-Straf-einheit 999 zu den Partisanen Titos überlief und versuchte, unter Kriegsgefangenen im befreiten Jugoslawien antifaschistische Umerziehungsarbeit zu leisten.

Aus diesen Erfahrungen schöpfte er, als ihm die Aufgabe gestellt wurde, in Polen in Vorbereitung der Entlassungen noch eine antifaschistisch-demokratische Aufklärung der zum großen Teil durch die Nazizeit geprägten ehemaligen Soldaten zu versuchen. Eine komplizierte Aufgabe gerade im Polen des Jahres 1948, mit Tito- und Gomulka-Affäre. Insgesamt jedoch entsprach diese Arbeit dem Vorgehen in anderen Ländern, die deutsche Kriegsgefangene in ihrer Obhut hatten (Großbritannien mit dem Lager Wilton-Park und die UdSSR mit dem Nationalkomiteemmitee Freies Deutschland).

Nicht Parteiorgan, sondern Volkszeitung
Im April 1948 wurde in Warschau eine Zentrale Selbstverwaltung für deutsche Kriegsgefangene in Polen gegründet. Die Mitarbeiter waren zumeist vor 1933 in der deutschen Arbeiterbewegung aktiv gewesen – in KPD, SPD oder Gewerkschaften – oder es waren Söhne solcher Antifaschisten. Hilfe bekamen sie von einer Gruppe Angehöriger der polnischen Arbeiterpartei, die auf zum Teil langjährige Erfahrungen in der internationalen Arbeiterbewegung zurückblicken konnten, wie Witold Leder, Natan Akerman sowie die durch Hermann Kants Romane bekannt gewordenen Edda Tennenbaum und Justyna Sierp.

Drei Hauptaufgaben waren zu bewältigen. Erstens: die Einrichtung von Lehrgängen zur Geschichte der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung und ihres Kampfes gegen Kapitalismus und Krieg und zur Geschichte des deutsch-polnischen Verhältnisses, etwa über den teilweise gemeinsamen antifaschistischen Widerstandskampf. Zweitens: die teils komplizierte Vorbereitung der Entlassungen in die Heimat. Drittens: den Versuch, eine Zeitung für die Kriegsgefangenen mit Nachrichten aus aller Welt, aus der Heimat mit den damals auf Spaltung Deutschlands zulaufenden Tendenzen, entnazifizierte Kulturbeiträge, Nachrichten aus den verschiedenen Lagern, Sport, Unterhaltung und was sonst noch eine Zeitung ausweisen muss, die dem Informationsbedürfnis nach jahrelanger Isolierung nachkommen wollte.

Die Schwierigkeit bestand zunächst darin, dass außer Karl Wloch, von dem wohl auch die Idee für den Titel »Die Brücke« stammte, niemand eine Ahnung vom Zeitungmachen hatte. Nur einer aus der Selbstverwaltung hatte schon mal Zeitungsgeruch in der Nase gehabt: Werner Land, gelernter Schriftsetzer und später in der DDR stellvertretender Chefredakteur der »Berliner Zeitung«. Der wurde von Karl Wloch in Warschau als erster Chefredakteur eingesetzt. Im Übrigen wurden vor allem ein paar junge Leute ausgewählt, darunter Hermann Kant und ich, zu denen später Manfred Gebhardt (in der DDR lange Chefredakteur des »Magazin«) und andere stießen.

Karl Wloch hatte offenbar die wertvolle Auffassung, aus dieser Zeitung kein Parteiorgan zu machen, sondern ein Blatt mit der Absicht, das Informationsbedürfnis seiner Leser zu befriedigen – soweit das unter den obwaltenden Umständen möglich war. Ihm schwebte so etwas wie eine antifaschistische Volkszeitung vor, die politische Fragen aufgriff, aufbereitete und von einem festen politischen Standpunkt kommentierte. Hermann Kant hat 1975 anlässlich einer kleinen Feier für Karl Wloch geäußert, er könne nicht nur nicht bestreiten, dass sein erster gedruckter Artikel in der »Brücke« erschien, sondern dass er die »Brücke« – nicht etwa deshalb, sondern überhaupt – für entschieden besser halte als manche gegenwärtige Zeitung.

Nicht unwesentlich zu dieser Entwicklung hat die aus einer berühmten polnisch-jüdischen Kommunistenfamilie stammenden Edda Tennenbaum trotz ihres damals schon hohen Alters beigetragen. Im Warschauer Lager arbeitete sie unter ihrem alten Decknamen Else Baum. Sie hatte sich vor dem ersten Weltkrieg im Exil ihre journalistischen Sporen in der Stuttgarter »Gleichheit« unter der Leitung von Clara Zetkin verdient. Leute mit dieser Vergangenheit und ihrer Auffassung zum Charakter eines Massenmediums wie einer Zeitung waren keine schlechten Lehrmeister für den künftigen Beruf, den eine ganze Reihe von uns Mitarbeitern der »Brücke« später gewählt haben.

Die erste Ausgabe der »Brücke« erschien im Mai 1948 noch »handgemacht«, das heißt hektografiert, mit Zeichnungen aufgelockert. Schon die Nummer 2 im Juni kam als richtige Zeitung heraus, mit der Hand gesetzt, in der Mettage umbrochen und auf einer kleinen Rotationsmaschine gedruckt. Freilich stand die Technik damals in einer Warschauer Gefängnisdruckerei, wo auch andere – mehr oder weniger geheime – Drucksachen erstellt wurden. Natürlich mussten die Druckfahnen, einem polnischen Zensor vorgelegt werden, mit dem wir, bis auf ein paar Fälle, aber kaum Schwierigkeiten hatten. Niemand braucht übrigens darüber heute die Nase zu rümpfen, denn diesen Weg mussten zu jener Zeit alle Zeitungen überall in Deutschland unter dem Kommando der vier Besatzungsmächte durchlaufen.

Polnischen Nachbarn näher gekommen
Die Redaktion der »Brücke« hat es geschafft, einen breiten Mitarbeiterkreis aus den zahlreichen Lagern in die Arbeit einzubeziehen: als Leserbriefschreiber, als Korrespondenten aus diesem oder jenem Lager oder als Fragesteller bzw. Antwortenerteiler. Es gab kritisches Nachfragen und offene Antworten darauf – besonders, aber nicht nur was die Lage in Deutschland anlangte.

Mit einer gewissen Berechtigung konnte im Leitartikel der letzten Ausgabe, der Nr. 25 vom August 1948, festgestellt werden, dass die Kriegsgefangenen durch diese Zeitung nach und nach den Sinn unserer Arbeit im demokratischen Polen erkannten, was ihnen die polnischen Nachbarn näher gebracht habe. »Neue Aufgaben warten auf uns in der Heimat. Deutschland soll frei und schön neu erstehen und das kann es nur, wenn seine Menschen vom Glauben an den Frieden und dem Willen zur Freundschaft mit anderen Völkern durchdrungen sind.«

»Die Brücke« und ihre Mannschaft haben einen Beitrag zu einem menschlichen Zukunftsprojekt geleistet. Der kann uns von Ignoranten und Geschichtsfälschern nicht genommen werden. Wer diese Zeit mit ihren Menschen und ihren Leistungen aus der gesamtdeutschen Nachkriegsgeschichte streichen will, wie es in Deutschland geschieht, hat das Recht verwirkt, zu behaupten, an einer objektiven Geschichtsschreibung interessiert zu sein oder gar mitgearbeitet zu haben.

Harri Czepuck (Jahrgang 1927) heute
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