nd-aktuell.de / 08.05.2008 / Politik / Seite 2

Staatsraison oder Solidarität?

Der Nahostkonflikt und die deutsche Verantwortung

Heinz-Dieter Winter

In diesem Monat feiert der Staat Israel den 60. Jahrestag seiner Gründung. Die israelische Regierung hat diesem Tag im nationalen und internationalen Rahmen eine herausragende Würdigung zukommen lassen, allein 40 Millionen Dollar hat der Staatshaushalt dafür zur Verfügung gestellt. Und auch Freunde in aller Welt feiern diesen Tag. Sind doch Frieden und Existenzsicherheit für einen Staat, der nach dem vom deutschen Faschismus verursachten Massenmord an den europäischen Juden entstanden ist, Anliegen und Verpflichtung für alle friedliebenden Menschen – vor allem für die Deutschen. Der israelische Friedensaktivist Uri Avnery – Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels – hat jedoch darauf aufmerksam gemacht, dass vielen israelischen Bürgern angesichts der ungewissen Zukunftsaussichten für Frieden mit den Palästinensern und der arabischen Umwelt nicht nach Feiern zu Mute ist, dass die Stimmung eher niedergeschlagen und bedrückt ist. Keinen Grund zu feiern haben aber auch die Palästinenser. Es gibt etwa vier Millionen Flüchtlinge, von denen mehr als ein Drittel unter prekären sozialen Bedingungen in Lagern lebt. Der auch in Israel wegen seines Eintretens für die Versöhnung beider Völker bekannte palästinensische Politiker Faisal Husseini meinte 2001, kurz vor seinem Tode, dass der Konflikt dazu führe, »aus unseren beiden Völkern Ungeheuer zu machen. Er brachte in uns hervor, was es an scheußlichstem und niederträchtigstem gibt«. Deshalb auch fordert Uri Avnery, dass endlich ein Schlussstrich unter der Geschichte von Okkupation und Siedlungspolitik gezogen wird.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in ihrer Knesseth-Rede im März die besondere historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels betont. Diese sei Teil der Staatsraison der Bundesrepublik. Die israelische Zeitung »Haaretz« kommentierte am 19. März, sie habe zu Recht die Raketenbeschüsse auf Sderot ein Verbrechen genannt. Das Blatt kritisierte zugleich, dass sie nicht ein einziges Wort über die wiederholten israelischen Menschenrechtsverletzungen auf der Westbank, die Bombardierung von Wohnvierteln in Gaza oder die Siedlungen sagte. Frau Merkels Unterstützung für Israel sei »ungezügelt«.

Gebietet die Staatsraion, dass deutsche Politik sich kritiklos verhält zu einer Politik, die das Völkerrecht und Menschenrechte verletzt? Verbietet Staatsraison solidarische Kritik? Sollte es nicht viel mehr Aufgabe gerade deutscher Politik sein – eben wegen aus deutscher Schuld an der Shoah resultierender besonderer Verantwortung –, eine Politik abzulehnen, die durch die Besetzung palästinensischer und anderer arabischer Territorien auf Dauer eine friedliche Koexistenz Israels mit den arabischen Nachbarn unmöglich macht? Gebietet nicht gerade die historische Verantwortung, einen Beitrag zu leisten, dass die Palästinenser nicht mehr länger unter Okkupation oder als heimatlose Flüchtlinge leben müssen und endlich ihren eigenen Staat erhalten? Die arabischen Staaten haben Israel auf mehreren Gipfelkonferenzen einen Friedensplan vorgeschlagen, dem auch die palästinensische Hamas zustimmen würde. Er sieht die Anerkennung Israels und die Aufnahme normaler diplomatischer Beziehungen vor, wenn sich Israel aus den 1967 besetzten Gebieten zurückzieht und einer Regelung der Flüchtlingsfrage zustimmt. Deutsche Politik sollte energisch für die Annahme dieses Friedensplanes durch Israel eintreten.

Unser Autor, Botschafter a.D., war stellvertretender Außenminister der DDR.