Opernskulptur am Grenzwachturm

Ein deutsches Schicksal, in Raum und Ton inszeniert am Schlesischen Busch, wird zur Klangwolke

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 3 Min.

Ein grauer Zahn im grünen Busch ist der ehemalige Grenzwachturm an der Puschkinallee. Mit Graffiti bedeckt, ist er in der heutigen Zeit angekommen. Er greift aber noch immer ins Gestern aus. Dass dieses Gestern weniger leicht zu erklären, zu verstehen, nachzuvollziehen ist als Gedenkstätten, Geschichtsbücher und erst recht Sonntagsreden suggerieren, zeigt die Geschichte von Dorle.

Diese Frau, DDR-Bürgerin, Journalistin, Tochter eines Wehrmachtsgenerals und späteren kommunistischen Polizeipräsidenten Berlins, Geliebte eines US-Bürgers, Republikflüchtige, Eingesperrte, dort zum Stasi-IM Mutierte, später ihren Verrat Bereuende, ist Objekt der Opernskulptur »Dorle«, die am Dienstag an und in diesem Wachturm aufgeführt wurde. Ihre Biografie lässt die Komplexität eines Lebens erahnen, das getrieben ist von Sehnen, Begehren und Fürchten, geprägt ist vom Machen und Tun sowie den Konsequenzen, die daraus erwachsen.

Die bildende Künstlerin Christine Berndt verzichtet vollkommen auf den Versuch, dieses Leben zu erklären. Zwar zeigt sie im Untergeschoss des Wachturms deutsche Wochenschauen aus dem 2. Weltkrieg, die den frühen geistigen Hintergrund des Vaters ausmessen. Im zweiten Geschoss sind Tagebuchaufzeichnungen Dorles zu lesen, die von ihrer gescheiterten Republikflucht, ihrer Gefängnishaft und ihrer IM-Tätigkeit erzählen. Der Hauptakzent liegt jedoch auf einer fragilen, elegischen Komposition, die Helmut Oehring schuf. Sie wurde zur Premiere von der Flötistin und Vokalartistin Natalia Pschenitschkowa dargeboten. Die Musikerin und Sängerin befand sich in dem für die Zuschauer von außen nicht einsehbaren Obergeschoss des Wachturms. Vier mobile Videobeamer transportierten das Bild aus dem Inneren jedoch auf die Außenflächen. Die Vorstellung, etwas, das innen sitzt, gärt und rumort, nach außen zu transportieren, wurde damit ins Bild gesetzt. Die Fragilität dieser Über-Setzung zeichnete sich im Vibrieren der Projektionen ab; die Videobeamer wurden von vier Personen in den Händen gehalten.

Die Komposition zeichnete sich durch einen klagenden, verhallenden, immer wieder neu aufgenommenen, dann abbrechenden Ton aus, der selbst sehr vorsichtig moduliert war. Das Werk besingt eine Leere. Es verweigert Versöhnung, schafft aber Raum für etwas, das sich einem gesellschaftlichen Konsens nicht einverleiben lässt, weil es der Aufschrei eines Menschen, der Schrei einer Seele ist. In ihm stecken weniger Empörung und Zorn. Vielmehr äußert sich eine umfassende Verlorenheit – eine Verlorenheit, die gewöhnlich von der Behaglichkeit der großen historischen Linien ausgemerzt wird. In die Klänge sind Wortfetzen der Tagebücher eingewebt.

Eingehüllt in diese Klagewolke, Berlin zu Füßen, wird etwas von dem Schmerz wieder erlebbar, den diese zur Feierstadt verkommene Metropole eben auch in sich trägt.

Grenzwachturm Schlesischer Busch, Puschkinallee, bis 8.6., do – so 14 -19 Uhr

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