Wir Terroristen

Theatertreffen Berlin: »Pornographie« von Simon Stephens, Regie Sebastian Nübling

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.
Wir Terroristen

Manchmal schlägt Comedy locker jedes Theater. Die schlichte, bodenlose Lakonie legt mit einem Schlag offen, was die ambitionierte Absicht unter bedeutungsschweren Metaphern begräbt. Wenn das Theater in Bedeutsamkeitsschweiß ausbricht, man ihm die Anstrengung ansieht, macht es mir jedenfalls gleich viel weniger Spaß zuzusehen. Insofern bin ich wohl einer jener abendländischen, voyeuristischen Hedonisten, denen diese Inszenierung mit dem ausgestreckten Finger droht: Achtung Endzeitsymbolik! Mit Pornographie im engeren Sinne, also dem Versuch, mittels Ausstellen von Geschlechtsorganen die abgestumpften Sinne aufzureizen, hat das Stück nichts zu tun. Autor Simon Stephens nimmt das Pornographische als Metapher für das Zerfallen der bürgerlichen Ordnung.

Vielleicht ein bisschen weit hergeholt? Gewiss ein Zuviel an Metapher, die dann jedoch nicht mehr als hochstaplerischer Bedeutsamkeitsgestus ist, in einer an sich völlig banalen - und nicht einmal besonders schlüssigen – Abfolge von alltäglichen Szenen. London an einem Sommertag 2005, als 52 Menschen in der U-Bahn durch Bomben starben. Bis dahin war die Stadt im Freudentaumel über die Vergabe der Olympischen Spiele 2012 gewesen. Zweimal das Wort »Wahnsinn« auf den Lippen der Stadtbewohner, zwei Möglichkeiten moderner urbaner Existenz.

So muss ich bei Sebastian Nüblings Inszenierung von »Pornographie« (eine Co-Produktion des Schauspielhauses Hamburg und des Schauspielhannovers) über den Untergang des Abendlandes im Allgemeinen und die Londoner U-Bahn-Anschläge im Speziellen an eine Szene aus irgendeiner dieser inflationären TV-Sendungen denken, bei dem man Geist und Witz auf kürzestem Weg über die mediale Theke schiebt, weil der Zuschauer die Fernbedienung und damit die Macht in der Hand hat. Manchmal scheint das auch sinnreich: Älterer Mann, nachdem er mit einer jungen Frau ausgegangen ist, dieser verdruckst-anspielungshaft noch einen Kaffee anbietend, bei ihm zu Hause, wo sie keiner störe. Die Frau, sehr jung, andere Generation, überlegt kurz und gibt dann desinteressiert beim Weggehen die Antwort: »Ficken ja, aber Kaffee – nö«. Zu solcher – den Kern der Banalisierung moderner Existenz treffenden! – Direktheit bringt es »Pornographie« in keinem Moment. Der Abend hat jederzeit den aufreizend-didaktischen Ansage-gestus eines in die Breite debattierenden Soziologieseminars. Thema: Wie bereitet sich lange schon im Alltag vor, was dann plötzlich als dramatisches Ereignis ausbricht? Wie viel vom Terroristen in uns sitzt schon mit am Abendbrottisch?

Groß und drohend den gesamten Hintergrund der Bühne von Muriel Gerstner ausfüllend: Pieter Brueghels Gemälde »Der Turmbau zu Babel« als Puzzlespiel. Alle tragen sie nun eifrig ihre kleinen Steinchen herbei, um daran weiterzubauen. Aber er bleibt unvollendet. Oder sollte man sagen: Er ist schon wieder Ruine? Manchmal nehmen sie gleich ganze Hände davon und bewerfen sich, halb übermütig, halb genervt. Man baut auch immer wieder neu an einem eigenen Turm aus Bürotischen. Babel ist überall. Wer auf derart aufdringliche Metaphorik, gekoppelt mit beliebigen Alltagsdialogen, allergisch reagiert, ist hier fehl am Platz. Ach ja, und mitten unter den Paaren und Passanten geht Samuel Weiss, einer der Attentäter mit seiner Tasche, in der die Bombe ist. Unscheinbar und freundlich grüßend. Ein Islamist? Einer von uns, mitten aus den Trümmern der Werte hervortretend, die der Untergang des Abendlandes hinterlässt. Die Bombe als letzter Versuch, mit einer eindeutigen Handlung in einer unübersichtlichen Realität, die jede Art Handlung sofort absorbiert, durchzudringen? Solche Überlegungen kann man anstellen, gewiss, man kann auch ein Theaterstück daraus machen, aber eines darf man nicht: seine Thesen bloß bebildern.

Wir sehen eine Frau, die im Büro, in dem man rund um die Uhr an einem dieser imaginären Exposés für irgendwas arbeitet, von ihrem Chef gedemütigt das Papier aufs Faxgerät legt und zur Konkurrenz schickt. Wir sehen zwei Brüder, die sich, für sie selbst überraschend, erotisch nahekommen. Wir sehen eine alte Frau, die an einem Garten vorbeigehend vom Grillgeruch derart überwältigt wird, dass sie bei fremden Leuten klingelt und um ein Stück für sich bittet ... Lauter neurotische Paare und Passanten, die plötzlich außerhalb der Norm sind. Doch darum gleich lebende Bomben? Der überanstrengt immer ins Allgemeine gehende Gestus verhindert, dass Spiel hier eine eigene Logik entfalten kann. Wie viel präziser (wirkmächtiger!) bringt Thomas Ostermeier dagegen seit langem an der Schaubühne neue britische Dramatik heraus – zuletzt seine grandiose Inszenierung von »Die Stadt / Der Schnitt«. Auch ein explodierendes London, aber ganz anders, sieht man in dem sehr zu Unrecht geschmähten surrealen Kinofilm »V wie Vendetta« von James McTeigue. Eine absurde Zuspitzung von moderner Apokalypseerwartung, sehr artistisch, sehr beunruhigend. In »Pornographie« bleibt es beim Räsonieren.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal