... der werfe den ersten Stein

Kinski. Jesus Christus Erlöser von Peter Geyer

  • Marion Pietrzok
  • Lesedauer: 4 Min.

Die erregendste Geschichte der Menschheit« will er vortragen, Klaus Kinski, der seit den 50er Jahren bis 1962 als Deklamator von Rimbaud, Villon, Brecht und anderen Säle gefüllt hatte. Jetzt also, nach längerer Pause, wieder ein Solo-Rezitationsprogramm, aber ein Projekt mit eigenem Text, auf das sich der Maximalist und Perfektionist zehn Jahre lang vorbereitet hat: die Passionsgeschichte, in einer faszinierenden Form – polizeilicher Steckbrief als Klammer und Erwiderungen des Gesuchten, nämlich Jesus Christus, so wie der 45-Jährige, der »die Wörter lebte«, die Botschaft verstanden hat und zu verstehen wünscht. Auftakt der Vortragstour am 20. November 1971 in der Deutschlandhalle in Berlin. Tausende sind gekommen.

Dunkel die Halle, die riesige Bühne leer, nur ein Spot auf Kinski, der, in Jeans und bunter Bluse, mit Mikrofon, allein. Nichts als seine Stimme. Ganz auf sie, die er geradezu exzessiv trainiert hat, vertrauend. Er beginnt. Leise, intensiv. Doch schon nach den ersten Worten, Sätzen Zwischenrufe. Und bereits nach fünf Minuten das, weswegen etliche der Zuhörer überhaupt gekommen sind: der Skandal. Kinski bricht ab und bittet die Störer – Rufer von »Du bist doch gar nicht Jesus!«, »Du hast ja nie gearbeitet!« und »Arschloch!« – auf die Bühne. Man kennt die Szene, Werner Herzog, mit vor allem dessen Filmen Kinski seine Weltklasse als Schauspieler am spektakulärsten unter Beweis stellen konnte, hat sie in dem Dokumentarfilm »Mein liebster Feind« wie ein Motto vorangestellt. Denn man erlebt Kinski in diesen Minuten seinem Ruf gerecht: exzentrisch, Fäkalvokabular schreiend, tobend, wohl auch größenwahnsinnig. Welch Irrtum.

Im 84-Minuten-Farbfilm, der jetzt in Arthouse-Kinos kommt und auf der Berlinale 2008 erstmals zu sehen war, erlebt man Kinski ganz anders, denn die Umstände dieses Abends werden klar (der bislang nur existierende Audiomitschnitt konnte das nicht leisten). Peter Geyer, Nachlassverwalter des legendären Schauspielers, hat das vorhandene knappe, von vier Kameras aufgenommene Rohmaterial so zusammengefügt, dass man den Eindruck einer Live-Übertragung erhält. Jedes gesprochene Wort ist erhalten. Ein starker Vortrag. Kinski, so kann man nachvollziehen, hat mit erstaunlichem Langmut auf die Provokationen reagiert. Gewiss, er hat, zunehmend gereizt, vor allem weil in der Konzentration behindert, die Bibelsätze auch gegen die üblen Lauthälse gepeitscht, die ihm »Phrasendrescher«, »Psychopath«, »Faschist« gar zuhöhnten: »Wer von Euch nicht nur eine große Schnauze hat, sondern wirklich ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein«, beispielsweise. Und es war manchmal auch totenstill, und es gab – den Textpassagen geltenden – Beifall, beispielsweise auf »... diejenigen, die einen Krieg beginnen oder sich daran beteiligen, sind schon tot ...« Er musste dennoch nach einer Stunde abbrechen. Zu sehr waren die im Revolten-68er Fahrwasser schwimmenden Milchbärte auf Diskussion um jeden Preis gestimmt. Ein Wahrheitenverkünder wird niederkrakeelt, als sei die Veranstaltung eine Speakerscorner oder der die Professoren abschaffende Campus und nicht Kunst.

Nach dem Abspann des Films die Überraschung: Ein paar Dutzend Zuhörer blieben. Und Kinski, erst mit den uniformierten Saalwärtern diskutierend, dann unter den am Boden vor der Bühne Sitzenden, fängt noch einmal neu an. Er ist etwas ramponiert nach dem unfreiwilligen Abgang von der Rampe, brustoffen die Bluse, das schulterlange Blondhaar verzottelt. Die gewaltige Anspannung – »30 Schreibmaschinenseiten auswendig, was glaubt Ihr denn, was das heißt ...!« – scheint nur der Stimme etwas ausgemacht zu haben, sie ist jetzt etwas rauer, aber die verbliebene Schar hört zu, mancher lauscht andächtig, und Kinski bringt seinen Text zu Ende. Es ist zwei Uhr morgens.

Was den Film interessant macht, ist nicht so sehr, dass man Teilnehmer wird an den Anläufen des Rezitator-Sisyphos', den Versuchen, den Abend im Wortsinne über die Bühne zu bringen, und sie auch im Vergleich zum Maß der Disziplinlosigkeit und Provokationen, denen Kinski ausgesetzt war, einschätzen kann, sodass man Verständnis für ihn gewinnt und etwas über Massenpsychologie lernt. Vielmehr ist der Film ein Dokument der Zeitgeschichte, in der die freche Naivität selbsternannter Wortführer der Ablehnung jeglicher Autoritäten – als deren eine Kinski an diesem Abend angesehen wurde – und die Ignoranz gegenüber politischen Inhalten deutlich wird. Im Kontext gesehen, den man ja erst durch diesen Film erhält, entpuppen sich die Schreier aus dem Publikum als enttäuschend blind dafür, dass da jemand mit seinem radikalen, revolutionären Ur-Christus doch eigentlich auf ihrer Frontseite steht. Tatsächlich ist »Jesus Christus Erlöser« eine scharfe Entlarvung gesellschaftlicher Machtverhältnisse, gerade auch im Sinne der 68er – hier erlebt man die Adorno-Missversteher als Hohlwortlinge. Deutlich wird: Kinski begriff sich nicht als Missionar, schon gar nicht einer Kirche des jahrtausendewährenden Heuchelns, so, wie er die Passionsgeschichte erzählte, gilt sein Text – und da ist er ganz aktuell – als ein flammendes Pamphlet für Freiheit, gegen Ausbeutung, Unterdrückung, Fremdenfeindlichkeit, Konsumgier, politische Parteien, staatliche Repression, Lüge, Korruption, Heuchelei. Man sollte ihn sich einmal anhören.

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