Keine Geschäfte mit unseren Kindern

  • Norbert Hocke
  • Lesedauer: 5 Min.
Keine Geschäfte mit unseren Kindern

Am 30. April 2008 verabschiedete das Bundeskabinett das Kinderförderungsgesetz (KiföG). Im Kern ein positives Gesetz, welches die Verteilung von vier Milliarden Euro zum Ausbau und in geringerem Umfang auch zur qualitativen Verbesserung der Kindertagesbetreuung in Deutschland regelt. Wie so oft steckt der Teufel aber im Detail: Im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) wird in Paragraf 74 geregelt, welcher Träger mit welchen Kriterien unter die freie Jugendhilfe fällt. Ein entscheidender Aspekt ist, dass gemeinnützige Ziele mit einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe verfolgt werden müssen. Genau dieser Passus sollte in der ursprünglichen Vorlage zum KiföG gestrichen werden. Damit sollte privatgewerblichen Trägern ermöglicht werden, mit Tageseinrichtungen für Kinder Gewinne zu erwirtschaften. Wohl gemerkt: Nicht Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände, Kommunen oder Betriebskindergärten, sondern gewinnorientierte Einrichtungen sollten die Möglichkeit bekommen, mit öffentlichen Geldern Profite aus der Tageseinrichtung zu ziehen.

Nach heftigem Widerstand von Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften und Fachpolitikern der SPD und der LINKEN ist es nun gelungen, diesen Paragrafen zu ändern. Aber aufgepasst: In 74a heißt es in dem vom Bundeskabinett verabschiedeten Gesetzestext: »Dabei sind alle Träger von Einrichtungen, die die rechtlichen und fachlichen Voraussetzungen für den Betrieb der Einrichtung erfüllen, gleich zu behandeln.« Damit wird durch die Hintertür wieder das Prinzip der öffentlichen Alimentierung für gewinnorientierte Einrichtungen eingeführt. Es geht nicht darum, ob wir in Deutschland an der einen oder anderen Stelle privatgewerbliche Einrichtungen bekommen. Es geht darum, ob mit öffentlichen Steuergeldern Bildung in Tageseinrichtungen für Kinder als Ware gehandelt werden kann.

Das ist der eigentliche, sozialpolitische Einschnitt. Warum sollte eine Kirchengemeinde mit eigenen Geldern und ohne Gewinn als Verein eine Kindertagesstätte betreiben, wenn zwei bis drei Straßenzüge weiter eine gewinnorientierte Einrichtung mit den gleichen Staatszuschüssen Profit aus der Arbeit mit kleinen Kindern zieht, weil sie das Personal schlechter bezahlt oder einen höheren Elternbeitrag verlangt? Gemeinnützige Arbeit wird abqualifiziert – es lebe die Gewinnmaximierung durch soziale Einrichtungen!

Zwei Aspekte werden in der Regel immer genannt, um die privatgewerblichen Einrichtungen einzuführen: Der Wettbewerb müsse gewährleistet sein und der Elternwille dabei berücksichtigt werden. Allein in Berlin haben wir 930 Träger von Tageseinrichtungen für Kinder, davon sind mindestens 300 bis 400 Kleinsteinrichtungen, die von Eltern selbst gestaltet werden. Wettbewerb und Elternwille sind im System der Kinder- und Jugendhilfe mit den Trägern der Wohlfahrtsverbände und der vielen tausend Vereine, gemeinnützigen Institutionen und der kommunalen Einrichtungen sehr wohl gewährleistet. Warum also die Änderung im KJHG? Will man im Hinblick auf die EU-Dienstleistungsrichtlinien den Markt für Bildung öffnen? Oder beabsichtigt man am Beispiel der Tageseinrichtungen ein gewinnorientiertes System der Bildung aufzubauen?

Ein solches Bildungssystem führt in der Konsequenz dazu, dass die soziale Selektion in unserer Gesellschaft weiter voranschreitet. Gerade die Ergebnisse der PISA-Studie haben ergeben, dass die soziale Selektion in Deutschland ein Hinderungsgrund für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund und aus den sogenannten bildungsfernen Schichten ist. Diese erzielen seltener einen höheren Schulabschluss als Kinder aus sogenannten bildungsnahen Schichten oder erreichen überhaupt keinen Schulabschluss. »Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung ist ein klassisches ›Vertrauensgut‹«, so die Bertelsmann Stiftung in einem Kommentar zum geplanten KiföG. Deshalb ist es notwendig, den Tageseinrichtungen für Kinder – von der Krippe über den Kindergarten bis zur Ganztagsbetreuung an Schulen – den besonderen Schutz der Öffentlichkeit zukommen zu lassen und mittelfristig gebührenfrei zur Verfügung zu stellen, damit wir Bildung von Anfang an in diesem Land unabhängig vom Status der Eltern umsetzen können.

Das Recht auf einen Kitaplatz und die gute Qualität muss von Anfang an die Botschaft an die Eltern sein. Die Erfahrungen aus England und Australien zeigen, dass wir in der Qualitätsfrage zwischen gewinnorientierten und wohltätigen Einrichtungen große Unterschiede haben. Die Wohlfahrtspflege und die öffentlichen Einrichtungen sind in der Qualität deutlich besser als diejenigen, die sich an Profitvorstellungen orientieren. Dies hängt mit qualifizierterem Personal zusammen. Absenkungen von Qualitätsstandards sind die logische Folge. Es zeichnet sich ab, dass als Firma betriebene Einrichtungsketten in Australien erstmals vor der Schließung stehen. Was soll hier Kindern und jungen Familien zugemutet werden?

»Schon heute scheint Deutschland auf dem Weg in eine neue Art von Klassengesellschaft zu sein. (...) Kinder der ›bürgerlichen Mitte‹ haben heute kaum mehr Kontakt zu Kindern unterer Schichten. Sie sammeln somit keine gemeinsamen Erfahrungen, lernen nicht wie man miteinander kommuniziert und welche Werte, Ziele und Sorgen dort bestehen. Vor diesem Hintergrund kann sich Sympathie als Grundlage der Solidarität nur schwer entwickeln.«, heißt es in der Studie »Eltern unter Druck«, die kürzlich von der Konrad-Adenauer-Stiftung veröffentlicht wurde. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft befürchtet, dass sich diese Entwicklung durch die Förderung profitorientierter Träger noch verschärft. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind aufgerufen, dem Entwurf des Bundeskabinetts in Paragraf 74a nicht Folge zu leisten und ihn zurückzuweisen!

Das System der Kinder- und Jugendhilfe mit seiner Trägervielfalt im öffentlichen und im freien Bereich hat sich bewährt. Es ist nicht durch diesen Paragrafen kaputtzuschlagen. Der Zugang zu frühkindlicher Bildung darf nicht vom sozialen Status der Eltern abhängen. Deshalb gilt es, am bisherigen System festzuhalten.

Norbert Hocke, 1952 in Westberlin geboren, ist Erzieher und Diplompädagoge. Von 1983 bis 1993 leitete er eine evangelische Kindertagesstätte in Berlin-Marienfelde. 1974 trat er in die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) ein und ist dort seit 1986 für den Vorstandsbereich »Jugendhilfe und Sozialarbeit« verantwortlich. Norbert Hocke ist stellvertretender Vorsitzender der GEW und Sprecher des Bundesforums Familie, das sich für die Verbesserung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen für Familien einsetzt.

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