Vorführung zum Mittagessen

Im vorpommerschen Viereck ist ein Totalverweigerer im Hungerstreik

  • Velten Schäfer, Schwerin
  • Lesedauer: 3 Min.
Nach langer Pause zeigt die Bundeswehr gegenüber totalen Kriegsdienstverweigerern seit letztem Jahr wieder Härte. Derzeit befinden sich zwei Verweigerer in Armeearrest. Kritiker fordern die Abschaffung der Wehrpflicht.
Kaserne in Viereck
Kaserne in Viereck

Vier mal drei Meter, Pritsche, Stuhl, Tisch, Klo und eine Milchglasscheibe, durch die zwar etwas Licht fällt, die einen Blick ins Freie aber verhindert – so, sagt Monty Schädel von der Deutschen Friedensgesellschaft (DFG-VK), muss man sich die Bundeswehr-Arrestzelle im vorpommerschen Viereck vorstellen, in der der 21-jährige Matthias Schirmer aus Friedrichshafen bereits seit über drei Wochen sitzt. Schädel, der für die PDS im Schweriner Landtag war und heute Politischer Geschäftsführer der DFG ist, muss das wissen. 1995 saß er als »Totalverweigerer« selbst wochenlang in einer Arrestzelle in Viereck.

Nur eine Stunde täglich darf der junge Süddeutsche seine Zelle verlassen; nur in dieser Zeit ist es ihm möglich, via SMS mit der Außenwelt zu kommunizieren. Menschliche Kontakte sind da kaum möglich; die Wachsoldaten, die den Arresthäftling auf den Hofgang begleiten, dürfen nicht mit ihm reden. Seit dem Pfingstwochenende verweigert Schirmer aus Protest gegen den zweiten aufeinanderfolgenden Armeearrest das Essen, seither wird er nach Informationen der DFG-VK regelmäßig zur Essenszeit in die Kasernenkantine geführt. Sogar eine Zwangsernährung sei dem jungen Mann schon angedroht worden. Da die Presseoffiziere am Standort ihre Telefone gestern klingeln ließen, können die Informationen des Bundeswehrkritikers nicht bestätigt werden.

Dass die Bundeswehr im Fall Matthias Schirmers mit Zwangsernährung droht, ist für Ralf Siemens von der »Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär« ein Zeichen für eine besonders konfrontative Haltung des Militärs im Nordosten. Bisher habe die Bundeswehr noch nie zu derart massiven Eingriffen ins Persönlichkeitsrecht gegriffen.

Die Kompetenzen der Militärgerichtsbarkeit sind ohnehin umstritten. Fest steht, dass deren Sanktionen keinen »strafenden«, sondern nur einen »erziehenden« Charakter haben dürfen. Wo aber endet die »Erziehung« eines Soldaten, der das Soldatendasein prinzipiell zurückweist? Ab welchem Punkt ist eine Arrestmaßnahme als »Strafe« zu betrachten? In den 90er Jahren, so Siemens, seien in der Regel höchstens drei jeweils 21-tägige Arrestphasen verhängt worden; es habe aber auch immer wieder längere Sanktionen gegeben. Ein Berliner Verweigerer brachte es im Jahr 2001 auf 80 Tage im Militärgefängnis.

Neben Schirmer sitzt derzeit in Bad Reichenhall noch ein zweiter junger Mann in Militärhaft. Gegen Silvio Walther wurde zunächst ein siebentägiger, dann ein zehntägiger Arrest verhängt, derzeit sitzt Walther eine 14-tägige Arretierung ab. Laut Siemens spricht viel dafür, dass danach eine 21-tägige Phase verhängt werden soll. Seit dem Machtwechsel in Berlin dreht die Truppe offenbar an der Disziplinarschraube. Erst seit 2007 werden Totalverweigerer wieder einberufen und mit Arreststrafen belegt. Im vergangenen Jahr traf es drei junge Männer. Zuvor wurden die Verweigerer stillschweigend ausgemustert oder einfach nicht einberufen.

Nach dem Ende der militärischen Disziplinierung kommt auf Totalverweigerer ein zivilrechtliches Verfahren zu. Theoretisch können dabei Haftstrafen verhängt werden – in der Praxis, so Schädel, sei das aber schon lange nicht mehr vorgekommen. In der Regel dauere das juristische Nachspiel einer völligen Wehrdienstverweigerung zwischen einem und zwei Jahren; in seinem eigenen Fall verstrichen aber fast vier Jahre, bis das letzte Verfahren beendet war.

Wer sich diesem Prozedere aussetzt, handelt aus politischer Überzeugung. »Totalverweigerer« lehnen die Dienstpflicht generell ab – und sehen auch im Zivildienst keine friedliche Alternative, denn »Zivis« können zu nicht bewaffneten militärischen Einsätzen herangezogen werden. So auch Matthias Schirmer, der seine Verweigerung bei der Musterung im Kreiswehrersatzamt angekündigt hatte.

Wer einfach nur dem Dienst entgehen will, hat inzwischen einfachere Möglichkeiten. Von einem durchschnittlichen Jahrgang wird die Hälfte ausgemustert; insgesamt, sagt Siemens, werde nur noch jeder Sechste einberufen. So war es auch im Fall Schirmers: Ein gutes Dutzend junger Männer aus seiner Schulklasse wurde tauglich gemustert, aber nicht einberufen.

Unter diesen Umständen, sagt Schädel, könne von »Wehrgerechtigkeit« nicht die Rede sein. Die Dienstpflicht müsse daher abgeschafft werden.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal