Gerechtigkeit für alle oder Kontrolle nur für Einen?

Der Richtungsstreit innerhalb der US-Gewerkschaft SEIU vertieft sich

  • Hae-Lin Choi, New York
  • Lesedauer: 5 Min.
Die derzeitige Kontroverse innerhalb der amerikanischen Dienstleistungsgewerkschaft SEIU über die zukünftige Linie der Gewerkschaft haben den Bundeskongress in Puerto Rico zur Farce werden lassen.
»Gerechtigkeit für alle« ist das diesjährige Motto des Bundeskongresses der amerikanischen Dienstleistungsgewerkschaft Service Employees International Union SEIU, welches in großen Lettern auf unzähligen Bannern, T-Shirts und Postern im Konferenzzentrum in San Juan, Puerto Rico, prangt. Vor dem eingezäunten und zutiefst bewachten Kongresszentrum demonstriert derweil die puertoricanische Lehrergewerkschaft Federacion de Maestros de Puerto Rico FMPR gegen Übernahmeversuche der SEIU. Sie erinnert dabei an Tumulte auf einer Konferenz nahe Detroit vor einigen Wochen, auf der die SEIU gegen Übernahmeversuche einer anderen Gewerkschaft protestierte.

Es scheint, als wolle die Gewerkschaftsführung ihren rund 2000 Delegierten mit dem omnipräsenten Kongressmotto eindringlich deutlich machen, wofür ihre Gewerkschaft steht und damit die hässlichen Schlagzeilen, die sie seit Wochen begleiten, vergessen machen. Von internen Machtintrigen, undemokratischen Zentralisierungstendenzen und unlauterem Mitgliederklau war in den vergangenen Monaten viel über die SEIU zu lesen in der amerikanischen Presse – ganz anders als die sonst üblichen Siegesmeldungen über Organisierungserfolge im Niedriglohnsektor.

Handfester Konflikt um die richtige Strategie

Die SEIU hat, auch in der deutschen Debatte, viel Aufmerksamkeit erlangt. Mit innovativen Organizing-Strategien wie beispielsweise der Kampagne »Justice for Janitors« konnte die Gewerkschaft in kurzer Zeit mehr als eine Million Mitglieder organisieren. Heute ist die SEIU mit zwei Millionen Mitgliedern die größte Gewerkschaft der USA.

Doch immer wieder werden kritische Stimmen zum eingeschlagenen Expansionskurs der Gewerkschaft laut, der zugunsten von Organisierungsmöglichkeiten zunehmend demokratische Mitbestimmungsmöglichkeiten der Mitglieder einschränkt und den Einflussbereich der SEIU-Führung rund um Präsident Andy Stern ausbaut (ND berichtete). Diese Maßnahmen haben die Frage aufgeworfen, welche Wege der Stärkung der Gewerkschaften besser dienen: Die Organisierung von unorganisierten Bereichen, die erreichte Standards gefährden, oder eine überzeugte, mobilisierungsfähige Mitgliedschaft – und beides scheint im eingeschlagenem Weg der SEIU nicht möglich.

Diese Frage wurde zum handfesten Konflikt, als Sal Roselli im Februar dieses Jahr öffentlich aus dem Vorstandsbeirat der SEIU austrat, unter anderem, weil er die zunehmend üblicher werdende Praxis der SEIU-Führung, mit Unternehmen sogenannte »Sweet-heart-Deals« abzuschließen, nicht weiter unterstützen wollte. In diesen Deals schließt die Bundesführung, über die Entscheidungsgewalt der lokalen Tarifkommission hinweg, schwache Tarifverträge zugunsten von Organisierungsrechten von Beschäftigten desselben Unternehmen andernorts ab. Dies wird damit begründet, dass nur eine große, wachsende Gewerkschaft Standards erkämpfen und verteidigen kann.

Ironischerweise ist Roselli Präsident von United Healthcare Workers West UHW, dem drittgrößten und am schnellsten wachsenden SEIU-Ortsverband mit über 140 0000 Mitgliedern. Er wird nicht müde zu betonen, dass eben diese Orientierung auf Basisdemokratie eine der Hauptstützen für das schnelle Wachstum seiner Gewerkschaft sei – und nicht strategische Abkommen, die von der Führung abgeschlossen werden.

Roselli war einst ein glühender Unterstützer von Präsident Sterns Reformvorhaben und ist nun prominentester Gegner seiner »Wachstum über alles«-Agenda, wie Roselli es nennt. Mit Hilfe der Website »SEIU Voice« mobilisiert UHW seit einigen Monaten unermüdlich gegen die SEIU-Führung und setzt sich für mehr Demokratie und Debatte ein.

Gegenkampagne mit Stinktier-Team

Die SEIU-Führung rund um Präsident Stern hingegen machte unmissverständlich deutlich, dass sie mit Kritik aus den eigenen Reihen nicht zimperlich umgeht und konterte mit einer beispiellosen Gegenkampagne. In diesem Konflikt zeigt sich eindrucksvoll, wie geschult beide Seiten in strategischer Kampagnenführung sind. Die SEIU-Führung überzog UHW mit einer Reihe von Klagen, drohte die Gewerkschaft unter Zwangsverwaltung zu stellen, überflutete die UHW-Mitglieder mit Hochglanzbroschüren und Massentelefonaten, um sie gegen Roselli aufzustellen. Gerüchten zufolge war sogar ein »Skunk Team« engagiert worden, was belastendes Material über Roselli recherchieren sollte.

Um die drohenden Gegenanträge der »SEIU Voice«-Fraktion auf dem Bundeskongress abzuwehren, versuchte die SEIU-Führung, die Legitimität der UHW-Delegierten in Frage zu stellen und sie vom Kongress auszuschließen. Daraufhin riefen hundert, teilweise prominente AkademikerInnen, darunter Noam Chomsky, Immanuel Wallerstein und Howard Zinn, am 1. Mai in einem offenen Brief an Andy Stern in der New York Times dazu auf, UHW nicht unter Zwangsverwaltung zu stellen und eine offene Debatte zuzulassen.

Wettbewerb um Visionen

Dies zeigt, dass der Streit zwischen Roselli und Stern mittlerweile längst zu einem grundsätzlichen Konflikt über Gewerkschaftsdemokratie und gewerkschaftliche Erneuerung geworden ist. Funktionäre und Basisaktivisten von anderen SEIU-Ortsverbänden haben die Reformplattform »SEIU Member Activists for Reform Today« (SMART) gegründet und eine Reihe von Reformvorschlägen entwickelt, die mehr Mitgliederpartizipation und Basisdemokratie garantieren. Mit diesen Vorschlägen traten sie am vergangenen Wochenende auf dem mit Spannung erwarteten SEIU-Kongress an.

Wie zu erwarten, konnte die SEIU-Führung ihr Reformprogramm »Gerechtigkeit für alle« vollständig durchsetzen. Dieses sieht vor allem eine Zentralisierung der Finanzen in der Bundesgewerkschaft zu Lasten von lokalen Budgets vor. Mit diesen zusätzlichen Mitteln sollen politische Kampagnen zur Verabschiedung von pro-gewerkschaftlichen Gesetzesreformen und nicht zuletzt Barack Obama unterstützt werden.

Da bereits abzusehen war, dass weder die UHW- noch die SMART-Anhänger die erforderlichen Mehrheiten für die Verabschiedung von jeglichen Gegenanträgen besaßen, erhielten diese Anträge zutiefst symbolische Funktion und wurden sehr emotional vorgetragen. Anhänger der Oppositionsfraktion hielten Schilder in die Luft, auf denen stand »Ich bin ein Fan von Demokratie!« und trugen Sticker mit der Aufschrift »Lasst uns reden!«. Kongressbeobachter Juan Gonzales: »Das ist ein wichtiger Wendepunkt für die SEIU, weil sie die Reformbewegung innerhalb der Gewerkschaftsbewegung anführt und nun werden die angeblichen Führer der Reformbewegung von der Natur ihrer eigenen Reform herausgefordert. Dies ist erst die Vorfront eines kommenden Richtungskampfes.« Tom Burke, ehemaliges Vorstandsmitglied vom SEIU-Ortsverband 73, ergänzt: »Das ist der erste echte Wettbewerb um Visionen in der Geschichte der SEIU-Kongresse. Lasst es krachen.«

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