Warten auf Ypsilantis Sprung

Schon vier Monate währt die Hängepartie im hessischen Landtag

  • Aus Wiesbaden berichtet Hans-Gerd Öfinger
  • Lesedauer: 7 Min.
Vor über vier Monaten wählten die Hessen einen Landtag, aus dem bis heute keine neue Regierung entstand – und über den Sommer wird sich dieser Zustand fortsetzen. Wenn die Sozialdemokraten Andrea Ypsilanti nicht bald in die Offensive geht, dürfte ihre Chance verstrichen sein.
Während in Hessen Roland Koch und Andrea Ypsilanti um die Macht taktieren (s. u.), macht die LINKE Front gegen neoliberale Politik: Fraktionschef Willi van Ooyen verteilt vorm Wiesbadener Hauptbahnhof Flugblätter.
Während in Hessen Roland Koch und Andrea Ypsilanti um die Macht taktieren (s. u.), macht die LINKE Front gegen neoliberale Politik: Fraktionschef Willi van Ooyen verteilt vorm Wiesbadener Hauptbahnhof Flugblätter.

Als der hessische Landtag am Dienstag dieser Woche mit der Mehrheit von SPD, Grünen und Linksfraktion die Rücknahme der Studiengebühren an Universitäten und Fachhochschulen des Landes beschloss, brach kurzzeitig unter den Parlamentariern der »Gestaltungsmehrheit« Euphorie aus. Debattenredner der drei Parteien links von CDU und FDP sprachen von einem historischen Augenblick, der Wiederherstellung sozialer Gerechtigkeit und Signalen an das restliche Deutschland.

Lange Gesichter gab es hingegen auf der Regierungsbank. Der Versuch des geschäftsführenden CDU-Ministerpräsidenten Roland Koch, durch den Kompromissvorschlag »nachgelagerter Studiengebühren« nach Hamburger Vorbild die Grünen doch noch kurzfristig in sein Boot zu ziehen und sich eine volle Niederlage zu ersparen, war fehlgeschlagen.

Begrenzte rot-grün-rote Gemeinsamkeiten

»Links gewinnt«, kommentierte selbst der konservative Wiesbadener Kurier die Abstimmung: »Ein Sieg, der in seiner Bedeutung nicht unterschätzt werden darf. Zeigt er doch, dass die linke Mehrheit der geschäftsführenden Landesregierung von Ministerpräsident Roland Koch auch in wichtigen Fragen diktieren kann, was diese zu tun und was sie zu lassen hat.« Studierende brachten noch am Abend der Abstimmung an der Wiesbadener Fachhochschule spontan ein Transparent mit der Aufschrift »Elite-freie Zone« an.

Die Rücknahme der unter einer absoluten CDU-Mehrheit in der vorigen Legislaturperiode beschlossenen Studiengebühren von 500 Euro bildete eines der zentralen Wahlversprechen der drei Parteien im zurückliegenden Winterwahlkampf. Bei der Landtagswahl am 27. Januar war Kochs CDU um zwölf Prozent abgerutscht. Da die LINKE über die Fünf-Prozent-Hürde kam und in Fraktionsstärke in das Wiesbadener Landesparlament einzog, verfehlten die Parteien des Koch-Lagers die Mehrheit. Seither regiert Koch mit seinem um zwei Minister geschrumpften Kabinett nur noch geschäftsführend. Die SPD-Landesvorsitzende Andrea Ypsilanti sitzt ihm als Aspirantin auf das Ministerpräsidentenamt im neuen kreisrunden Plenarsaal mehr oder weniger direkt gegenüber.

Nach dem Abstimmungssieg vom Dienstag stellt sich mehr denn je die Frage: Was machen die Parteien der »Gestaltungsmehrheit« aus ihrem Erfolg – und wird es ihnen in diesem Jahr noch gelingen, Koch aus der Staatskanzlei zu verdrängen? Ypsilanti, die sich Ende März von einem Landesparteitag noch einmal mit breiter Mehrheit den Auftrag zur Bildung einer rot-grünen Minderheitsregierung mit den Stimmen der LINKEN geholt hatte, muss auch tatsächlich für das Amt antreten, wenn sie zur Regierungschefin gewählt werden möchte. Bisher ist sie davor zurückgeschreckt.

Auch wenn SPD, Grüne und LINKE in weiteren wichtigen Fragen – etwa der Forderung nach Rückkehr Hessens in den Arbeitgeberverband TdL (Tarifgemeinschaft deutscher Länder) – an einem Strang ziehen, ist der Vorrat an rot-grün-roten Gemeinsamkeiten nicht unerschöpflich. Bei den Abstimmungen zu wichtigen Sachfragen im Landtag ergibt sich ein buntes, für viele Journalisten bisweilen verwirrendes Bild unterschiedlichster Konstellationen. Zum Privatisierungsprojekt des Jahrzehnts – dem teilweisen Verkauf der Bahn – brachten CDU, FDP und Grüne schon Ende April einen gemeinsamen Antrag ein, der das von der Großen Koalition im Bund jetzt aufs Gleis gebrachte Holdingmodell aus neoliberaler Sicht kritisiert und die volle, ungezügelte Liberalisierung fordert. Ein Hauch von Jamaica wehte durchs Wiesbadener Parlament.

Ypsilantis Traum, schon bei der Konstituierung des neuen Landtags zur Regierungschefin gewählt zu werden, war am Einspruch der rechtssozialdemokratischen Abgeordneten Dagmar Metzger gescheitert. Die gebürtige West-Berlinerin hatte erklärt, dass sie aufgrund ihrer Kindheitserlebnisse in der geteilten Stadt in den 60er Jahren nicht gemeinsam mit der LINKEN ihre eigene Genossin Ypsilanti wählen würde. Darauf hin hatte Ypsilanti ihre Kandidatur auf Eis gelegt, weil SPD, Grüne und LINKE ohne Metzger nur noch über 56 von 110 Stimmen verfügen, genau die erforderliche absolute Mehrheit. Da jedoch noch andere SPD-Abgeordnete als unsichere Kantonisten galten und gelten, scheut Ypsilanti bis zum heutigen Tag den Sprung.

Nach dem Erfolg in der Frage der Studiengebühren stellt sich die spannende Frage: Wie lange wirkt dieser Sieg? Am Ende einer anstrengenden Sitzungswoche eilen die Parlamentarier schon am heutigen Freitag in das nordhessische Städtchen Homberg, um zehn Tage lang beim traditionellen alljährlichen Hessentag, einem riesigen Volksfest, Präsenz zu zeigen und die Nähe zum Wahlvolk zu suchen. Die Fußball-Europameisterschaft und die Sommerferien werden das Ihrige tun, um die entscheidende Frage bis in den Frühherbst zu vertagen: Wird Ypsilanti überhaupt für das Amt der Ministerpräsidentin antreten?

Die Sozialdemokratin, die nicht zuletzt mit einer Kampagne für Mindestlöhne im Januar die in Panik geratene CDU auf der Zielgeraden beinahe noch überholt hätte, möchte zusammen mit ihren engen Vertrauten in Hessen eine etwas linkere Form von Sozialdemokratie etablieren. Genau da liegt das Problem für den rechten Flügel der Bundes-SPD, für Leute wie Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück. Die wollen offensichtlich verhindern, dass sich Ypsilanti über das Forum des Bundesrats auch nur im Ansatz als Gegengewicht und Hoffnungsträgerin einer gewandelten Nach-Schröder-SPD bundesweit etabliert. Eine Blockiererin wie Dagmar Metzger, deren Schwiegervater Mitbegründer des konservativen Seeheimer Kreises war, kommt nicht von ungefähr. Ebenso wenig ein Jürgen Walter, Ypsilantis innerparteilicher Rivale, der jetzt wieder eine Öffnung der Hessen-SPD für eine mögliche Große Koalition ins Gespräch gebracht hat – obwohl der Landesparteitag Ende März eben dies klar abgelehnt und Walter sogar ausgebuht hatte.

Manches spricht dafür, dass Ypsilanti nichts anderes übrig bleiben wird, als alles auf eine Karte zu setzen, irgendwann im Herbst noch einmal Anlauf zu nehmen und als Ministerpräsidentin im Landtag zu kandidieren. Der Versuch von Ypsilantis Generalsekretär Norbert Schmitt, Dagmar Metzger in einem Gespräch unter vier Augen zu einer Kandidatur für den Bundestag zu bewegen und sie so gewissermaßen wegzuloben, flog auf und scheiterte vor allem auch am Widerspruch der rechten Dissidentin.

Sollte es Ypsilanti auch ohne Metzger schaffen, dann werden sich die in ihrer Fraktion stark vertretenen rechten Sozialdemokraten kooperativ zeigen, um mit lukrativen Posten versorgt zu werden. Kommt es allerdings zu einem »Simonis-Effekt«, also einer Wahlniederlage durch Nein-Stimmen im eigenen Lager, wäre das (vorläufige) Ende von Ypsilantis Karriere besiegelt; sie müsste den Fraktionsvorsitz abgeben, möglicherweise an Jürgen Walter.

Unter solchen Umständen könnte es zu einem regelrechten Wettlauf zwischen SPD und Grünen um die Gunst der CDU kommen. Walter könnte sich durchaus mit dem Amt eines Innenministers und Vizeministerpräsidenten anfreunden. Wie weit die SPD-Basis dies alles mitmacht, muss sich erweisen. Andererseits setzt Roland Koch, der sich in den letzten Monaten auffällig moderat zeigte und zunehmend ökologisches Vokabular in den Mund nimmt, gezielt darauf, angesichts des offenkundigen Dilemmas und Desasters der SPD die Grünen doch noch in sein Boot zu holen und eine Jamaica-Koalition mit den Liberalen zu bilden, wie sie nebenan im Wiesbadener Rathaus schon besteht. Nichts deutet darauf hin, dass die Hessen-FDP das Angebot einer schwächelnden SPD zur Zusammenarbeit auf absehbare Zeit ernst nehmen wird.

Zunehmend spekulieren die politischen Beobachter jetzt über mögliche Neuwahlen im Lande, die mit der Europawahl 2009 zusammenfallen könnten. Dazu wäre eine Selbstauflösung des Landtags mit absoluter Mehrheit nötig. Diese Mehrheit ist derzeit (noch) nicht gegeben. Durchaus nicht auszuschließen ist eine Variante, bei der eine neu gebildete Jamaica-Koalition – ob mit oder ohne Koch an der Spitze – auf einen Überraschungseffekt setzt und sich Rückenstärkung vom Wahlvolk erbittet.

Die Angst der SPD vor Neuwahlen

Neuwahlen sind allerdings für alle Parteien ein Risiko, zumal niemand genau vorhersehen kann, wie die Bevölkerung ein solches Signal auffassen wird. Am meisten dürften derzeit die SPD-Abgeordneten davor zurückscheuen, zumal viele von ihnen durch den »Ypsilanti-Effekt« im Januar unerwartet Direktmandate errungen haben und nun fürchten müssen, allein schon angesichts des aktuellen Stimmungstiefs ihrer Partei alles wieder zu verlieren.

Die LINKE kann in dieser verfahrenen Situation glaubhaft versichern, dass an ihr die Abwahl Kochs nicht gescheitert wäre. Alle sechs Fraktionsmitglieder wollen für Ypsilanti stimmen, sollte sie antreten. »Der größte Wahlbetrug ist die Verhinderung eines Politik- und Regierungswechsels – nicht die Duldung einer Minderheitsregierung durch meine Fraktion«, bringt es Fraktionschef Willi van Ooyen auf den Punkt.

Kommt es zu keiner rot-grünen Minderheitsregierung Ypsilanti, so bleiben der LINKEN möglicherweise quälende innerparteiliche Tolerierungsdebatten erspart. Sie kann sich in diesem Sommer auf ihre öffentlichkeitswirksamen Kampagnen konzentrieren und von der bundesweiten Stimmungslage einigen Rückenwind für eventuelle Neuwahlen erhoffen. So stellte sich van Ooyen, immer noch parteilos und nach eigenen Angaben »gelernter Außerparlamentarier«, schon einmal letzte Woche zusammen mit Fraktionskollegen vor den Wiesbadener Hauptbahnhof und verteilte Flugblätter gegen die Bahnprivatisierung.

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