Der Gentest bringt es an den Tag

Jedes fünfte bis zehnte Neugeborene in Deutschland ist ein Kuckuckskind

  • Simone Schmollack
  • Lesedauer: 7 Min.

Brigitte Zypries ist frohen Mutes. Sie lächelt in die Kameras, lässt sich auch durch doofe Fragen nicht aus dem Konzept bringen und spricht ihre Sätze ruhig zu Ende. In solchen Momenten sieht sie aus wie eine, die denkt: Da habe ich mal wieder alles richtig gemacht.

Brigitte Zypries ist Bundesjustizministerin und hat vor kurzem ein neues Gesetz durchgesetzt, das heiß umstritten war: das Vaterschaftsrecht. Das heißt, die SPD-Frau hat es reformiert, über das Ergebnis freuen sich viele. Zuallererst die Väter, die seit 1. April mehr Rechte haben. Sie können nun leichter als vorher erfahren, ob sie der leibliche Vater des Kindes sind, das sie groß ziehen. Das reformierte Gesetz stärke auch die Mütter, sagt Brigitte Zypries. Weil die jetzt von Anfang an wüssten, was auf sie zukommt, wenn ihre Männer wissen wollen, was Sache ist und einen Gentest verlangen. Vor allem aber sei es gut für die Kinder, die nun ein gesetzlich verbrieftes Recht darauf haben zu erfahren, von wem sie abstammen.

Rechtlich gesehen ist das neue Vaterschaftsrecht tatsächlich ein Fortschritt. Denn die Geschichten, die sich hinter Fällen verbergen, die das neue Gesetz brauchen, sind dramatisch. Es sind Fälle, bei denen misstrauische Männer Gentests verlangen oder heimlich machen, Frauen schweigen oder lügen und Kinder um eine wichtige Information betrogen werden.

Friedemann ist Pfarrer in einer kleinen Gemeinde, mit Jutta, seiner Frau, hat er fünf Söhne. Vier der Jungen sehen sich ähnlich und verhalten sich auch ähnlich. Nur der vorletzte, Adrian, schlägt vollkommen aus der Art. Bis Friedemann dahinterkommt, dass Adrian nicht seine Gene trägt, vergeht ein halbes Jahr. In dieser Zeit zweifelt der Vater zunächst am Krankenhaus, in dem Adrian zur Welt kam. Vielleicht waren damals ja Babys vertauscht worden? Dann zweifelt Friedemann an seiner Frau, die ihn betrogen haben könnte. Und er zweifelt an sich selbst, weil er nicht glauben kann, dass seine Frau so etwas tut. Am Ende aber gibt es keinen Zweifel mehr: Jutta hatte mal einen anderen, und Adrian ist ein klassisches Ku- ckuckskind.

Schätzungen besagen, dass jedes fünfte bis zehnte Neugeborene nicht von dem Vater stammt, den es kennt. In Deutschland sind das etwa 25 000 bis 40 000 jedes Jahr. Das Online-Portal des Bayrischen Rundfunks spricht von zwei Ku- ckuckskindern pro Schulklasse. In Deutschland lassen jedes Jahr 40 000 Männer testen, ob ihre Söhne und Töchter wirklich von ihnen stammen. Jeder vierte Vater ist nicht der richtige. Fliegt ein solches Geheimnis auf, wird eine Familie in ihren Grundfesten erschüttert.

»Ich weiß nicht mehr weiter«, notiert Friedemann später in seinem Tagebuch. »Zwischen Jutta und mir ist Eiszeit angesagt, selbst die Kinder merken, dass etwas nicht stimmt. Sie sind aggressiv und werden laut. Ich hatte befürchtet, ich würde gegenüber Adrian Fremdheitsgefühle entwickeln, jetzt, da ich weiß, dass er nicht mein eigen Fleisch und Blut ist. Aber dem ist nicht so. Ich betrachte ihn jetzt nur mit anderen Augen und frage mich, vom wem er seine Gene hat. Ist es jemand aus dem Dorf, aus der Gemeinde? Gibt es einen, der mehr weiß als ich? Einen, der sich vielleicht kaputt lacht über mich?«

Wenn die Existenz eines Ku- ckuckskindes offenkundig wird, ist die Schuldfrage rasch geklärt: Die Frauen lügen und betrügen, sie schieben ihrem Mann ein Kind als das seine unter. Damit bringen sie ihn um seine Nachkommenschaft und obendrein in eine peinliche Situation, sie setzen ihn dem Gespött der Leute aus. Außerdem muss er auch noch dafür zahlen, dass er übers Ohr gehauen worden ist. Als im Januar 2005 der Bundesgerichtshof 2005 entschied, dass heimlich durchgeführte Vaterschaftstests vor Gericht nicht verwertbar sind, ging ein Aufschrei durch die Presse und durch die Männerszene. Männer würden zu »Bürgern zweiter Klasse« gemacht, empörte sich der Schriftsteller Rafael Seligmann. Väter würden zum »Freiwild betrügender Frauen«, klagte er an. Männerverbände warnten vor dem »Schlampenschutzgesetz«, und der Spiegel rückte Väter in die Rolle der »puren Geldgeber«. Das wiederum finden Frauen empörend. Es sind doch meist die Männer, argumentieren sie, die ihre Familien verlassen, wenn sie keine Lust mehr auf sie haben. Nach einer Trennung kümmerten sich Väter nur noch selten um ihre Kinder.

Die Wahrheit liegt wie so oft in der Mitte. Nicht jeder Mann läuft Gefahr, ein Kuckucksvater zu werden. Und nicht jede Frau ist eine Betrügerin. Der Grund, warum Frauen schweigen und auch Männer erst dann beginnen, genauer nachzufragen, wenn die Beziehung zur Frau in die Brüche geht, ist nach Aussage der Berliner Psychologin Katrin Nickeleit einfach: die Sehnsucht nach der heilen Familie. »Das Geheimnis, dass ein Kind nicht von dem Mann stammt, der es großzieht, muss gewahrt bleiben, damit die bestehende Familie nicht auseinanderbricht«, sagt sie.

Als Jonathan 20 wurde und zum Studium in eine andere Stadt zog, fasste sich Nora ein Herz. Sie setzte sich in den Zug, um ihrem Sohn zu erzählen, dass nicht Jens sein leiblicher Vater ist, sondern ein anderer. Einer, den er noch nie gesehen hat. Jonathan war erschüttert über die Wahrheit, mit einem solchen Familiengeheimnis hatte er nicht gerechnet. Er brauchte ein paar Wochen, um zu begreifen, was vor sich ging. Und Nora litt, sie fürchtete, ihren Sohn zu verlieren. »Aus Angst, er würde sich abwenden, habe ich all die Jahre geschwiegen«, sagt sie.

Ein fataler Kreislauf. Der Drang, ihr Kind zu beschützen, treibt die meisten Mütter früher oder später in Situationen, die sie nicht mehr beherrschen. Eine vermeintlich kleine Lüge, aus Not, aus Scham, aus Furcht, wächst im Laufe der Jahre zu einem Gespenst heran. Warum machen sich Mütter selbst zum Mittelpunkt eines Dramas, an dessen Anfang sie zwar stehen, aus dem sie sich aber herausstehlen, indem sie lügen? Ist es einzig die Sorge um das Kind, dass sie nicht die Wahrheit sagen lässt? Ist nicht oftmals die Furcht vor sozialer Ausgrenzung größer? Und die Angst vor dem Verlust des Partners? Das ist die Crux: Schweigende Mütter bauen sich und dem Kind keinen heimischen Frieden, sondern nur eine Illusion davon.

Das Tabu, in der eigenen Familie offen über ein Kuckuckskind zu reden, steht im Gegensatz zur heutigen Zeit. Noch nie scheiterten so viele Ehen wie in den letzten Jahren (jede dritte Ehe wird geschieden), noch nie gab es so viele Kinder, die mit verschiedenen Vätern und Müttern aufwachsen. Der Auseinanderfall von biologischer und sozialer Vaterschaft wurde selten so stark thematisiert wie jetzt. Und die wachsende Zahl von Zweitehen mit weiteren Kindern zeigt, dass es nicht in jedem Fall das Gen ist, das zusammenschweißt.

Kuckuckskinder sind in diesen Dramen die eigentlichen Leidtragenden. Aus der Adoptionsforschung ist bekannt, dass Kinder, die früh von ihren Eltern getrennt werden, ihr Leben lang an ihren »abgeschnittenen Wurzeln« leiden. Es ist wichtig zu wissen, woher man kommt, um zu erkennen, wer man ist und warum man so geworden ist, wie man ist. Dieses Wissen wird den meisten Ku- ckuckskindern ein Leben lang verwehrt. Viele Kuckuckskinder begeben sich, wenn das Geheimnis gelüftet ist, selbst auf die Suche nach dem unbekannten biologischen Teil ihrer Existenz. Manche finden ihn, andere nicht, einige halten den Kontakt aufrecht, wenn er erst einmal geknüpft ist, nicht wenige brechen ihn bald nach einem Treffen wieder ab. Sie sagen: Ich wollte nur wissen, wer mein Vater, wer meine Mutter ist. Das reicht mir. Psychologin Katrin Nickeleit hat einen besseren Rat: Es erst gar nicht zu einem Geheimnis kommen zu lassen. Sofort die Karten auf den Tisch zu legen, sei für alle Seiten zwar sicher erst einmal schmerzvoller, aber auf lange Sicht besser. In jedem Fall und für alle Beteiligten. Durch das neue Gesetz muss jetzt kein Mann, der plötzlich nicht der biologische Vater seines Kindes ist, mehr befürchten, dass er sein Kind verliert, wenn er an der genetischen Abstammung zweifelt. Insofern hat Brigitte Zypries alles richtig gemacht.

Von unserer Autorin erschien im Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf »Kuckuckskinder, Kuckucks- eltern«. 237 S. 9,90 EUR.

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