Herat – eine afghanische Hoffnung?

In der Stadt im Nordwesten des kriegsgeplagten Landes ist die Lage besser als andernorts. Insgesamt aber wächst die Frustration in der Bevölkerung. Die Taliban gewinnen an Boden.

  • André Brie, Herat
  • Lesedauer: 6 Min.
Unter den Kriegen der jüngsten drei Jahrzehnte hat Herat weniger als andere afghanische Städte gelitten. Der populäre einstige Gouverneur und Warlord Ismail Khan sitzt inzwischen in der Regierung Karsai – kein Einzelfall.
Ein Zeitungsjunge versucht, seinen Beitrag zum kargen Familieneinkommen beizusteuern.
Ein Zeitungsjunge versucht, seinen Beitrag zum kargen Familieneinkommen beizusteuern.

Auf dem Flug von Kabul nach Herat beeindrucken zunächst die gewaltigen, nahen Gletscher des Hindukusch. Dann geht es mehr als eine Stunde über das Braun weniger hoher, aber ebenso unwegsamer Berge. Nur die wenigen Flusstäler ziehen sich wie dünne grüne Adern durch das Gebirge. Wo immer sie den Felsen und dem Lehm mehr als ihr Bett abgerungen haben, sind die sorgfältigen kleinen Vierecke der Reis- und Weizenfelder aus der Höhe erkennbar. Die einsamen Dörfer liegen im Geröll, um keinen Fleck des kostbaren Ackerlandes zu verschwenden.

Oase in der trockenen Steppe

Zum ersten Mal nach so vielen Flügen über Afghanistan fällt mir auf, wie bunt das Braun ist. Ich finde rotes, graues, sandiges, schwarzes, gelbes, orangefarbenes, smaragdgrünes, weißes, goldenes, antrazithenes, sogar blaues Braun. Mancherorts fließen die Farben fleckig ineinander, andere Male streben sie in langen Streifen im Gestein der Hänge auseinander. Herat sieht im Landeanflug wie ein verführerischer Garten aus, eine Oase in der trockenen Steppe, ganz anders als die Häuser- und Lehmhüttenwüste Kabuls. Auf einem der nördlichen Berge sieht man die Zitadelle, die Alexander der Große auf seinem Eroberungszug nach Indien erbauen ließ, im alten Zentrum der Stadt die vier hohen Minarette der Musalla-Moschee aus dem 14. Jahrhundert. Dass die Stadt einst als »Florenz Afghanistans« galt, hat sie jedoch ihrer strategischen Lage an der historischen Seidenstraße und vor allem ihrer herausragenden Rolle in der persischen, afghanischen und muslimischen Kultur zu verdanken. Einer der berühmtesten Dichter Persiens, Dschami, und der große Miniaturmaler Ustad Kamal-du Din Behzad lebten hier.

Unter den Kriegen der jüngsten drei Jahrzehnte hat Herat weniger als andere afghanische Städte gelitten. Doch schon im März 1979, ein Dreivierteljahr vor dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan, bombardierte die Sowjetarmee Herat und tötete Tausende Soldaten sowie Einwohnerinnen und Einwohner, nachdem während einer Meuterei der afghanischen Armee unter Ismail Khan mehr als 300 sowjetische Militärberater umgebracht worden waren.

In Afghanistan, ich erfahre es immer wieder, gibt es keine einfachen Geschichten. Die Taliban steckten Ismail Khan drei Jahre ins Gefängnis. Nach der US-amerikanischen Militärintervention 2001 wurde er Gouverneur der Provinz. Seine ungewöhnliche und bis heute spürbare Popularität speiste sich aus seinem Widerstand gegen die sowjetische Besetzung und wohl noch mehr aus den reichen Zolleinnahmen aus dem Handel mit Iran, die er einbehielt und in Herat investierte, bis ihn Präsident Karsai absetzte und zum Minister für Wasser und Energie machte. Malalai Joya, die mutigste und von einer Männermehrheit verfassungswidrig aus dem Parlament ausgeschlossene Abgeordnete der Wolesi Jirga, nannte ihn einen »Killer-Warlord und Lakaien des iranischen Regimes«.

Warlords an den Schalthebeln

In Karsais Regierung ist Ismail Khan kein Einzelfall. Warlords, Kriegsverbrecher und Drogenhändler haben dutzendfach Positionen an den Schalthebeln inne. Die meisten von ihnen sind ehemalige Mudschahedin-Führer, die von den US-Geheimdiensten für den Kampf gegen die Sowjetarmee ausgebildet, finanziert und aufgerüstet worden waren. Nach dem 11. September 2001 wurden sie erneut zu Verbündeten der USA beim Sturz der Taliban und sicherten ihren Gefolgsleuten beim Einmarsch in Kabul einflussreiche Positionen in den Ministerien und »nebenbei« jene Villen, die sie in ihrem verheerenden Krieg gegeneinander in den 90er Jahren nicht zerstört hatten. Karsai holte sie auf Washingtoner Wunsch in die Regierung, und die Führung der Armee (der als ungewöhnlich korrupt und unfähig geltende Verteidigungsminister Wardak besitzt die US-amerikanische Staatsbürgerschaft) wollte damit zugleich ihre Todfeinde einbinden. Das Ergebnis ist fatal.

Der damals weithin bekannte argentinische Lehrer, Publizist und Politiker Sarmiento hat 1845 in seinem Buch »Barbarei und Zivilisation« über die blutigen Wirren der argentinischen Unabhängigkeitskämpfe eine gültige Einschätzung dieser Politik formuliert: »Zwar ist es die Regierung der Stadt, die den Titel des Landkommandeurs verleiht, doch da die Stadt auf dem Lande eine schwache Stellung hat, ohne Einfluss und ohne Anhänger, ernennt sie für dieses Amt ausgerechnet diejenigen Männer, die sie am meisten fürchtet, um sich ihres Gehorsams zu versichern – ein wohlbekanntes Verfahren aller schwachen Regierungen, die auf diese Weise das Übel vorübergehend bannen, mit der Folge, dass es später ins Kolossale vergrößert auftritt.«

Karsais persönliche Integrität wird von wenigen in Frage gestellt, sein Ruf jedoch ist ramponiert, zumal die meisten Afghaninnen und Afghanen wirtschaftlich und sozial keinen Fortschritt erleben. Die gegenwärtige Nahrungsmittelkrise trifft sie mit elementarer Wucht. Der Preis für 50 Kilogramm Weizen ist seit Jahresbeginn von 700 Afghani (14 US-Dollar) auf 2500 Afghani gestiegen und macht allein ein ganzes durchschnittliches Monatsgehalt aus, das viele Menschen jedoch nicht haben. Das US-amerikanische Center for Strategic and International Studies schätzte mit seltenem Realismus ein: »Die Afghanen sind frustriert über ihre wirtschaftliche Lage. Sie leiden unter unsteter Beschäftigung und wirtschaftlicher Unsicherheit und wenden sich unerlaubter und illegaler Aktivität zu wie Korruption und Opiumhandel.« Das und die Taliban oder andere aufständische Gruppen sind die Arbeitsagenturen Afghanistans.

In den internationalen Medien werden die Probleme mit abstrakten Zahlen diskutiert und nur die großen Anschläge und Kämpfe gemeldet. Die Realität ist bei weitem schlimmer. In den afghanischen Zeitungen wird täglich über die Zerstörung von Schulen (vor allem jenen für Mädchen), Morde an Lehrerinnen und Lehrern berichtet, die ein bevorzugtes Ziel der Taliban sind, über die Sprengung von Brücken, Angriffe auf Lastkraftwagen und Baustellen. Auch die einheimischen Medien schreiben jedoch nichts über die grauenhafte Gewalt, der jeden Tag Mädchen und Frauen Afghanistans ausgesetzt sind. Verbrennungen, Selbstmorde verzweifelter Frauen, kollektive Vergewaltigungen, Morde für die angebliche Ehre der Familie oder des Stammes sind an der Tagesordnung und werden nicht verfolgt und nicht gesühnt, gar nicht zu reden von der tausendfachen häuslichen Gewalt. Weite Teile Kabuls, kilometerlang, sind eine Aneinanderreihung von schwer bewaffneten Festungen, hinter denen sich Botschaften, afghanische und internationale Behörden, Unternehmen, Banken, nichtstaatliche Organisationen, Militär und Polizei verschanzt haben. Den Einwohnerinnen und Einwohnern der Hauptstadt wird täglich die Okkupation und Feindschaft ihnen gegenüber vor Augen geführt. Die Mehrheit ist inzwischen ablehnend geworden gegen alle Ausländer, die als Gefolgsleute der USA angesehen werden – alles andere als zufällig angesichts der Unterwerfung der europäischen Politik unter die imperiale Strategie der Bush-Administration.

Von der Seidenstraße zum Drogenhändlerweg

Herat sieht anders aus. Die Stadt wirkt vergleichsweise wohlhabend und gilt als sicher. Privates Gewerbe und der Handel mit dem nahen Iran prägen ihre Wirtschaft. Doch der sehr trockene und extrem kalte Winter ist den Pinien, die an jeder Straße stehen, anzusehen: Sie sind braun gefroren. Wenig Wasser ist in der Schneeschmelze des Frühjahrs in die Flüsse gelangt. Dem Land und Herat steht eine Dürre bevor, die die Nahrungsmittel noch knapper und noch teurer machen wird. Der Schlafmohnanbau in der Provinz ist zurückgegangen. Doch die Stadt liegt nicht mehr an der Seidenstraße, sondern an einem schmutzigen Drogenhandelsweg. Auch dort, wo es günstiger aussieht oder gar vorangeht, offenbart sich das Scheitern der internationalen und afghanischen Regierungspolitik. Fast jeder in Herat diskutiert derzeit das Gerücht, Ismail Khan wolle den aktuellen Gouverneur Anwari stürzen und in die lukrative und von Kabul kaum kontrollierte Provinz zurückkehren, zumindest einen seiner Vertrauten einsetzen.

Im Krankenhaus ist von den USA, der EU und Frankreich ein beeindruckend modernes Zentrum für Brandopfer errichtet worden. Gut ausgebildete, wunderbar engagierte Ärzte aus Europa und Afghanistan sind hier tätig. So etwas hat es in Afghanistan noch nie gegeben. Dass es eine solche Einrichtung geben muss, und insbesondere für Mädchen und Frauen, die von ihren Männern mit kochendem Wasser und brennendem Öl gefoltert werden, ist auch in Herat gebliebene Realität.

Männer in Herat – Warten auf bessere Zeiten und Teetrinken.
Männer in Herat – Warten auf bessere Zeiten und Teetrinken.
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