Zwie-Lichtspieltheater

Albert Ostermaiers Roman »Zephyr«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Im Kino erleben wir Weltschöpfer: Licht und Schatten. Zwei kämpfen um das Bild, das mit unseren Blicken entsteht. Wer von beiden ist Gott, wer Teufel? Wer gut, wer böse? Licht steigt auf, Schatten senken sich. Damit es auf der Leinwand hell werden kann, muss es im Raum dunkel sein. Im Zwielicht, obwohl es nicht nach ihm benannt ist, findet der Schatten seine Hoheitsrechte gesichert. Dominiert er nicht überhaupt unsere Träume vom Kino, im Kino? Denn erst im Zwie-Lichtspieltheater erschauern wir beglückt; die Untiefen ziehen uns an, in die kein Strahl fällt, auch wenn sie der Film ausleuchtet ...

Der Dichter Albert Ostermaier – Lyriker und Dramatiker – ist nicht zu denken ohne Kino. Seine Gedichte blicken uns aus einer Welt an, die durch Mord und Täuschung besetzt ist, und der Mord muss nicht Messer haben, ihm genügen die stabileren klassischen Instrumente: verweigerte, versäumte, verlorene, verratene Liebe; auch das Blut, das in uns fließt, kann vergossenes, vergeudetes Blut sein, das uns längst verlassen hat, obwohl da irgendwo noch ein Muskel zuckt, den man zu hoffnungsvollen Zeiten Herz nannte.

Ostermaier schreibt Gedichte aus dem Geist des Regisseurs Jean-Pierre Melvilles, der in seinen Filmen den Schleier wegzog zwischen kalten, schuldig machenden Plänen gegen die Verhältnisse und unschuldig kalter Reaktion auf die Verhältnisse. Es ist, als habe der Mensch sein Gewissen durch einen synthetischen Code ersetzt, und die Lebensentwürfe sind verdrängt worden von einem ästhetischen System der kalkulierten Kühle. Die Formlosigkeit des Lebens tröstet sich in der Formvollendung, mit der darin ausgeharrt wird. Die vereisten Blicke erwarten keinen Gegenblick mehr – was ihnen die schöne Freiheit erlaubt, auch unbemerkt einfach nur sehr, sehr traurig zu werden. Folgenlos.

Anlass für Ostermaiers ersten Roman, »Zephyr«, ist der Fall der Schauspielerin Marie Trintignant, die 2003 während Dreharbeiten in Vilnius von ihrem Geliebten, dem Rocksänger Bertrand Cantat, erschlagen wird. Im Bett, in dem der Mörder nach seiner Tat einschläft. Der wegen Totschlags Verurteilte wurde im vergangenen Jahr wegen guter Führung entlassen; von seinem Geständnis der Tötung waren es stets nur wenige Atemzüge zur Liebeserklärung an Marie.

Ostermaier erzählt die Geschichte eines anderen Paares: Gilles und Cathy. Gilles hat den Auftrag, ein Drehbuch über den Fall der Marie Trintignant zu schreiben. »Je länger sie stirbt, desto besser verkauft sie sich. Wie viele Tode muss sie sterben, Marie.«

Cyrills Frau Cathy schläft, romanlang. Aber sie wacht in den Träumen, Assoziationen von Gilles. Sie jagt dessen Fantasie immer wieder aus den Sicherungsbereichen des Zivilen: Kommen wir der Wahrheit – etwa eines Verbrechens – näher, wenn wir den fremden Leben, den erschreckenden Tathergängen, dem Unbegreifbaren die Bruderschaft anbieten? »Gilles musste Teil des Films werden, den er schrieb, der unbekannte Täter, den keiner findet, der im Schatten wartet, der Schlagschatten zwischen den Schnitten.«

Die Geschichte der getöteten Schauspielerin und des tötenden Rockmusikers wird für Gilles zur Selbstprüfung. Sehr plötzlich verschwimmen ihm die Grenzen zwischen den Zeiten, zwischen Wirklichkeit und Fiktion? Gibt es diese Grenzen überhaupt? Überall, wo etwas sicher schien, schrillen nun die Signale des Argwohns. Und in den Zentren der Gewöhnung, der Lieblosigkeit, der Trennungsbeschlüsse, da lodert die Sehnsucht plötzlich am frechsten. In den Blendzonen der Begehrlichkeit gerät die Tat, die aus Liebe geschieht, gefährlich nah an die Tat, die man aus Hass begeht, begehen möchte. Leben, ein randloses Ineinanderlaufen der dämonischen Gelüste; jeder Schritt auf einen anderen Mensch zu: ein neues Bodenloswerden.

Beim Lesen scheint der Roman zum Gedicht zu werden, um dann im Stakkato der Dialoge selber Drehbuch zu spielen. Ostermaier öffnet dem Leben, dessen Trieben und Obsessionen das Treibhaus seiner Indifferenz, in dem es nur heißes Befremden gibt, das die Normaluhren schmelzen lässt. Der Roman bezieht seine Suggestionskraft aus jener souveränen Unentschiedenheit, in der Ostermaier jeden Anflug moralischer Eindeutigkeit einfrieren lässt. Als sei das Leben eins mit all den Verirrungsmöglichkeiten, denen man nicht zweimal sagen muss, uns heftig anzuwehen. Die einzige Gewalt, in der wir uns haben, ist die Gewalt, in die wir uns – fühlend, denkend, handelnd – fortwährend verlieren. Dem Attraktionspol dieser Gewalt strebt jede Geschichte zu, die eine Liebesgeschichte sein will. Es ist Ostermaiers Reise in just dieses Kino der entfesselten Leidenschaften, die erschreckend nah an der Vernichtung leben. Ein lustiger Film ist das nicht, der sich da im modernen Menschen abspielt.

Zephyr: Bei den Griechen der große Liebende mehrerer Frauen – und ein Mörder. Und Zephyr heißt der Westwind, der das Frühjahr herweht, die Helle, die Wärme, die Frische. Das Licht steigt, die Schatten werden länger. Die zwei Weltschöpfer im Verteilungskampf. Das Zwielicht tankt auf ...

Albert Ostermaier: Zephyr. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main. 222 S., geb., 17,80 EUR.

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