Modernisieren oder abschaffen

Die Gesetzliche Krankenversicherung befindet sich im Umbau

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 5 Min.
Die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) blickt auf eine 125-jährige Geschichte zurück. Während sie in den ersten Jahrzehnten nach ihrer Gründung noch signifikante Verbesserungen erfuhr, hat sie in den letzten Jahren Federn lassen müssen.

Das 125-jährige Jubiläum der guten alten gesetzlichen Krankenversicherung wurde am Mittwoch in Berlin gefeiert. Es war eine ausgezeichnete Gelegenheit, in Sachen Sozialstaat noch einmal so richtig auf die Pauke zu hauen, bevor man das bewährte Krankenversicherungssystem häppchenweise weiter privatisiert.

Für die 70 Millionen gesetzlich Krankenversicherten hatte es in den letzten Jahrzehnten erhebliche Einschnitte gegeben. Mit nahezu jeder Reform waren Kostendämpfungen einhergegangen – fast immer zu Lasten der Patienten und demzufolge in Abkehr vom Solidarprinzip. Zuzahlungen und Selbstbeteiligung steigen, eine Praxisgebühr wird eingeführt, ein Krankenhausnotopfer erhoben und Leistungen sowie Medikamente aus dem GKV-Katalog gestrichen. Plötzlich werden Patienten zur Kasse gebeten, wenn sie nach einem Piercing ärztliche Behandlung brauchen. Demnächst könnten sie auch für Sport- und Freizeitunfälle zur Kasse gebeten werden. Das Solidaritätsprinzip wird immer mehr ausgehebelt, denn die Patienten müssen mit jeder Reform einen größeren Anteil an den Krankheitsrisiken übernehmen. Aufgrund gestiegener Kosten gehen diejenigen, die ein geringes Einkommen haben, seltener zum Arzt. Bei allem sinken nicht etwa die Krankenkassenbeiträge, wie es von der Politik immer wieder versprochen wird. Im Gegenteil, vielfach steigen sie.

2005 wird mit einem weiteren wichtigen Prinzip dieser Versicherung, der paritätischen Finanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer, gebrochen. Von da an zahlen die Arbeitnehmer allein 0,9 Beitragsprozentpunkte für den Zahnersatz. »Paritätisch ist die GKV schon lange nicht mehr«, stellte der DGB-Vorsitzende Michael Sommer auf der Jubiläumsfeier fest. Als einziger Redner warnte er davor, von den Prinzipien der GKV abzugehen. Natürlich müsse sich das System modernisieren, sagte er, »aber Modernisieren ist etwas anderes als Abschaffen, auch auf kaltem Weg«.

Nach Ansicht von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) dürften die Kosten für die Gesundheitsversorgung aufgrund des medizinischen Fortschritts und der demografischen Entwicklung auch weiter steigen. Man müsse sich entscheiden, ob man diese Kosten solidarisch oder mehr in Eigenverantwortung der Bürger begleiche, sagte sie. Es gab keinen Zweifel, welche Variante sie bevorzugt, denn sie wünschte sich von der GKV mehr Mut, neue Wege zu gehen. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt wurde deutlicher. So könne es mit der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung nicht mehr weitergehen, sagte er. Diese sollte von den Lohnkosten abgekoppelt werden. Hundt plädierte für einkommensunabhängige Beiträge und einen Steuerzuschuss für Einkommensschwache. Außerdem brauchten die gesetzlichen Krankenkassen mehr Wettbewerb.

Auch dem Selbstverwaltungsprinzip der gesetzlichen Krankenkassen, in deren Aufsichtsräten Vertreter der Versicherten und der Arbeitnehmer sitzen, geht es an den Kragen. »Der Gesundheitsfonds kommt zum 1. Januar 2009«, erklärte Angela Merkel auf der Jubelveranstaltung. Das bedeutet, nicht mehr die Krankenkassen legen ihre Beitragshöhe fest, sondern ab November 2008 tut das die Bundesregierung. Immer öfter werden Befürchtungen laut, dass die Beiträge auch im nächsten Jahr steigen werden und sicherlich einige Kassen Zusatzbeiträge werden erheben müssen.

In die Freude über ein vernünftiges Sozialsystem, dass 125 Jahre überdauerte und auch auf das DDR-System ausgeweitet wurde, mischt sich angesichts der jüngsten Entwicklungen auch die Furcht, dass die GKV nicht mehr weitere 125 Jahre Bestand haben wird, wie es die meisten Redner beschworen. Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass neue Reformen vor allem darauf hinauslaufen, die »Eigenverantwortung« der Patienten zu stärken und die Arbeitgeber zu entlasten. Im Im Klartext: Für die Kranken wird es teurer.

GKV-Geschichte

• Am 15. Juni 1883 beschloss der deutsche Reichstag das Gesetz über die Krankenversicherung der Arbeiter. Auf die Krankenversicherung folgten 1884 die Unfallversicherung und 1889 die Invaliditäts- und Alterssicherung, die heutige Rentenversicherung.
• Reichskanzler Otto von Bismarck hatte Kaiser Wilhelm I. vom politischen Nutzen der Sozialgesetze im Kampf gegen die erstarkende Sozialdemokratie überzeugt. Der Monarch sandte dem Reichstag daraufhin die kaiserliche Botschaft, »dass die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen« sei, und forderte die Abgeordneten auf, die Gesetzgebung auf den Weg zu bringen.
• Ab 1884 waren Arbeiter und Angestellte bis zu einem Jahreseinkommen von 2000 Reichsmark verpflichtet, sich in einer Krankenkasse zu versichern. Sie mussten zwei Drittel des Beitrags zahlen, die Arbeitgeber ein Drittel. Vom dritten Tag einer Erkrankung an erhielten Kranke maximal 13 Wochen Arzt- und Arzneikosten, die Hälfte eines Tagelöhnerlohns als Krankengeld und Sterbegeld. Frauen wurden nach der Geburt eines Kindes vier Wochen lang unterstützt.
• 1911 wurden Kranken-, Unfall und Rentenversicherung in der Reichsversicherungsordnung in einem einzigen Gesetzbuch zusammengefasst, dem Vorläufer der späteren Sozialgesetzbücher.
• 1911 wurde für eine Berufsgruppe, die zwischen 2000 und 5000 Reichsmark im Jahr verdiente und bisher nicht versichert war, die Angestelltenversicherung geschaffen. 1913 waren einschließlich der Familienangehörigen 62 Prozent der Bevölkerung krankenversichert. 1874 waren nur fünf Prozent der Bevölkerung über die traditionellen »Kranken-, Hülfs- und Sterbekassen« der Gilden, Innungen, Knappschaften oder Zünfte abgesichert. epd/ND


GKV-Reformen

• 1989: Gesundheitsreformgesetz (GRG). Zuzahlungen und Selbstbeteiligungen der Patienten steigen. Es gibt Festbeträge für Arzneimittel.
• 1993: Gesundheitsstrukturgesetz (GSG). Die Versicherten dürfen ab 1996 ihre Krankenkasse frei wählen. Die vertragsärztliche Versorgung wird budgetiert. Ein Finanzausgleich zwischen den Krankenkassen, der Risikostrukturausgleich (RSA), wird eingeführt.
• 1997: Beitragsentlastungsgesetz. Zuzahlungen für Arznei-, Heil- und Hilfsmittel sowie Klinikaufenthalte und Reha werden erhöht. Der Zuschuss zu Brillen wird gestrichen, ein »Krankenhaus-Notopfer« eingeführt.
• 2000: GKV-Gesundheitsreform. Die Integrierte Versorgung wird ermöglicht, bei Hausarztmodellen werden Bonusprogramme eingeführt. Das Versicherungssystem in den neuen Bundesländern wird angeglichen. In der DDR bestand eine einheitliche Sozialversicherung für Krankheit und Rente. Betriebe und Beschäftigte hatten je zur Hälfte den 20-prozentigen Beitragssatz bezahlt.
• 2004: Gesundheitsmodernisierungsgesetz (GMG). Patienten müssen zu fast allen Leistungen Zuzahlungen von zehn Prozent der Kosten erbringen. Für ambulante ärztliche und zahnärztliche Behandlungen wird die Praxisgebühr von zehn Euro pro Quartal eingeführt. Für versicherungsfremde Leistungen erhalten die Krankenkassen einen aus Steuermitteln finanzierten Zuschuss.
• 2005: Gesetz zur Anpassung der Finanzierung von Zahnersatz. Die Versicherten zahlen einen Sonderbeitrag von 0,9 Prozent ihres Einkommens ohne Beteiligung der Arbeitgeber.
• 2007: Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs (GKV-WSG). Aus dem Gesundheitsfonds sollen die gesetzlichen Kassen ab 2009 ihre Finanzmittel erhalten. Gespeist wird er aus Beiträgen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber sowie aus Steuerzuschüssen. Kommt eine Kasse mit ihrem Geld nicht aus, kann sie Zusatzbeiträge verlangen.
Bundesgesundheitsministerium/ND
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