Kampf um den Stadtteil

Die neuen sozialen Bewegungen übten schon früh praktische Kritik an den 68ern

  • Christoph Villinger
  • Lesedauer: 5 Min.
Die 68er mussten in den letzten Monaten viel gegen Angriffe von rechts verteidigt werden. Vielleicht auch deshalb blieb eine kritische Auseinandersetzung von links eher zögerlich. Die Kritik der neuen sozialen Bewegungen der 70er und 80er Jahre böte dafür eine Reihe von Anknüpfungspunkten.

Mitten im kalten norddeutschen Winter durchbrachen am 28. Februar 1981 zehntausende Demonstranten das faktische Demonstrationsverbot rund um die Baustelle des Atomkraftwerks Brokdorf. Einige Tausend lieferten sich anschließend vor dem Bauzaun eine Schlacht mit der Polizei. Wie schon in den Jahren zuvor versuchten sie, das Motto der Demonstration »Der Bauplatz muss zur Wiese werden« praktisch umzusetzen, was aber wegen des massiven Einsatzes von Wasserwerfern und Hubschrauberstaffeln durch die Polizei auch an diesem Tag nicht gelang.

Doch während die Demonstrationen rund um das Jahr 1968 mit höchstens einem Zehntel der TeilnehmerInnen in den letzten Monaten durch alle Medien geisterten, scheinen diese Kämpfe gegen den Atomstaat und ihre Akteure vergessen. Dabei stellen die Auseinandersetzungen rund um die geplanten Atomkraftwerke in Brokdorf, Wyhl und Kalkar epocheprägende Orte der neu aufkommenden sozialen Bewegung dar. In diesen Kämpfen, ebenso wie in den Auseinandersetzungen rund um die besetzten Häuser in Westberlin und Freiburg oder gegen die Militarisierung der westdeutschen Gesellschaft ging die von den 68ern gelegte Saat auf. Alltagskulturell und politisch bewirkten diese Bewegungen das Zerbröckeln des formierten sozialdemokratischen Staates – dem sogenannten »Modell Deutschland« –, der vor allem die Jugendlichen mit seiner Disziplin und einem vorgezeichneten Lebenslauf schreckte. Dies individuell und gleichzeitig kollektiv zu verweigern, stellte den im Alltag entscheidenden Bruch zur damaligen Gesellschaft der Bundesrepublik dar.

Bruch mit der Arbeitertradition

Gleichzeitig gab es aber auch innerhalb der Bewegungen wichtige Brüche, die sich eben nicht gradlinig von 1968 her fortschreiben lassen. So erscheint dank der heutigen Präsenz in den Medien die »RAF-Offensive 77« in den Jahren nach 1968 als fast die einzige Handlungsoption, wenn man sich nicht anpassen wollte. Dabei hatten die damals sogenannten Spontis, Vorläufer der Autonomen, bereits 1976 dazu aufgerufen »Schmeißt die Knarren weg, nehmt die Steine wieder in die Hand«. Sie wollten damit einen Ausweg aus der militaristischen Konfrontation mit dem Staat hin zur einer eng an soziale Bewegungen und Konflikte angebundenen Militanz aufzeigen.

Auch an anderen Stellen brachen die sozialen Bewegungen mit den 68ern. Mit einem kritischen Blick auf die Studentenbewegung entwickelten sie eine praktische Kritik. Die Akteure der Revolte in den Jahren 1980/81 wollten nicht mehr zurückschauen wie die 68er. Diese hatten im Prinzip versucht, wieder an die Arbeiterbewegung der 20er Jahre anzuknüpfen und wollten beim nächsten Anlauf alles besser machen. Auch wenn dieser Reflex verständlich ist angesichts der gesellschaftlichen Leere in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten, welche die Vernichtungspolitik der Nazis hinterlassen hatte. Diese Mentalität der 68er spiegelte sich nicht nur in der Gründung unzähliger kommunistischer Parteien, die einem Arbeiter-Ethos der 20er Jahre huldigten. Auch ein Rudi Dutschke schrieb seine Doktorarbeit über den »Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen« und selbst Peter Weiss blickt in seiner »Ästhetik des Widerstands« inhaltlich und zeitlich nach hinten.

Parallel zur Studentenbewegung hatte sich in der BRD eine stetig wachsende kulturelle Kluft entwickelt, die erstmal wenig mit den intellektuellen Konflikten an den Hochschulen zu tun hatte. Im Wesentlichen handelte es sich dabei um zwei fundamentale Brüche. Zum einen wurde Arbeit als zentrale gesellschaftliche Identität in Frage gestellt. Insbesondere junge Menschen verweigerten sich der kapitalistischen Verwertung, suchten auf langen Reisen, im alternativen Landleben und Drogenexperimenten ein Leben außerhalb der als geschlossenes System empfundenen fordistischen Gesellschaft. So stellte die berühmte Shell-Jugendstudie 1980 entsetzt fest, dass sich bis zu 20 Prozent der Jugendlichen von der bestehenden westdeutschen Gesellschaft abgewandt hatten. Noch im Sommer hatte sie der Jugend in einer »Stern«-Ti- telgeschichte bescheinigt, »weitgehend unpolitisch« zu sein. Doch schon wenige Monate später flogen nicht nur ihnen die Steine der Hausbesetzerbewegung in Westberlin um die Ohren.

Politik der ersten Person

Der zweite Bruch war die Entwicklung einer »Politik der ersten Person«. Nicht mehr ausgehend von marxistischen Theorien der objektiven Klassenanalyse, sondern im sozialen Alltag versuchte man den Widerstand gegen den Kapitalismus zu entwickeln. Hervorragend konkretisierte sich dies im Konflikt um den Ausbau der Atomindustrie. Ein wichtiges Theorieorgan dabei war die »Autonomie – Materialien gegen die Fabrikgesellschaft«, deren AutorInnen sich an die italienischen Operaisten wie zum Beispiel Antonio Negri anlehnten. Laut dieser ebenfalls in einer marxistischen Tradition stehenden Theoretiker war nicht mehr die Fabrik der zentrale Ort der gesellschaftlichen Konflikte, sondern der Stadtteil. So rückten die Kämpfe um kostenlosen Öffentlichen Nahverkehr, die Alltagskultur im Viertel und Hausbesetzungen sowie in Italien der sogenannte »proletarische Einkauf« (»Bezahlt wird nicht«) in den Mittelpunkt ihrer Analysen.

In allen westlichen mitteleuropäischen Metropolen brachen mit der Revolte um 1980/81 diese Konflikte auf. Am sichtbarsten waren die Hausbesetzungen von Zürich über Freiburg bis nach Westberlin und Amsterdam, ebenso wie der Kampf gegen die Atomindustrie und die weitere Militarisierung des Landes im Rahmen des Ost-West-Konflikts. Im Verlauf dieser Konflikte breitete sich eine alternative Gegenkultur aus, die damals noch konfrontativ zum Staat stand. Auch unzählige alternative Betriebe entstanden in dieser Zeit. Man verwahrte sich gegen den aufklärerischen und pädagogischen Ansatz der 68er, wollte vielmehr selbst praktisches Vorbild sein und damit die Menschen überzeugen, dass es auch anders geht.

Mit dem Wissen von Heute

Die Akteure der Revolte 1980/81 konnten damals noch nicht voraussehen, wie der Kapitalismus schon wenige Jahre später die geforderte »Selbstbestimmung« in Form der »neuen Selbstständigkeit« gerade auch gegen sie wenden würde. Ebenso wie sie nicht vorhersehen konnten, dass eine Gegenkultur in der Buntheit einer kapitalistischen Warenwelt aufgehen kann oder als Subkultur in einer Nische ruhiggestellt wird. Gerade die zum Teil aus dieser Bewegung stammenden Grünen haben nicht nur positiv dazu beigetragen, die Fabrikgesellschaft aufzubrechen, sondern auch zur Modernisierung des Kapitalismus beigetragen. Heute ist die Solarindustrie eine der stärksten Zukunftsmärkte.

Es ist mit dem Wissen von heute einfach, die Ideen und Akteure von 68 oder von 80/81 zu kritisieren. Aber sie gaben in ihrer historischen Situation richtige Antworten, waren auf der Höhe des jeweiligen gesellschaftlichen Konflikts. Wie sich diese Konfliktlagen ändern können, zeigt sich bei den aus dem autonomen Milieu stammenden BesetzerInnen des Bethanien in Berlin-Kreuzberg. Die Besetzung stoppte die geplante Privatisierung des Kulturzentrums am Mariannenplatz. Unter anderem richtete sie sich gegen den Rückzug des Staates aus der »öffentlichen Daseinsvorsorge« und konterkariert damit die noch vor wenigen Jahren von vielen Autonomen vertretene antistaatliche Politik. Aber angesichts dessen, dass der Staat immer größere Teile der Gesellschaft einfach aufgibt und sich selbst überlässt, ist es heute wieder rebellisch, die Gesellschaft als Ganzes zu denken.

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