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1968 zu Ende denken

Das »Kursbuch« von vor 40 Jahren und die heutige Wertediskussion

  • Uli Gellermann
  • Lesedauer: 8 Min.

Wir sind eine kleine radikale Minderheit« – die mit diesem Spruch in den 60er Jahren gerne ihre Demonstrationen garnierten, während sie mit merkwürdigem Schnellschritt, den sie Ho-Chi-Minh-Galopp nannten, das westdeutsche Pflaster traten, hatten recht: Sie waren eine Minderheit, und sie schienen der Elterngeneration ziemlich radikal.

Was heute als »die 68er« verkauft wird, war keineswegs eine komplette Generation. Wer sich zu Zeiten dem Vorwurf der Langhaarigkeit, Bärtigkeit und des Ungewaschenseins (jungen Frauen kreidete man die kurzen Röcke und somit mangelnde Sittlichkeit an) aussetzte, gehörte eher zu einem kleinen Teil der westdeutschen Jugend. Allerdings war es ein lautstarker, mutiger und ziemlich wütender. In diesem Erinnerungsjahr 2008 sammeln sich eine Menge Artikel, Bücher und TV-Sendungen zum Thema an, und wer nicht so genau hinhört – oft wird auch nicht sonderlich genau geschrieben und gesendet –, dem bleiben drei herausragende »Erkenntnisse«: Die 68er waren Studenten, sie kämpften für sexuelle Befreiung, die Auseinandersetzungen fanden in Berlin statt, und später entstand daraus die RAF. Mit jeder dieser Behauptungen wird die Wahrheit dünner, bis zur erkennbaren Absicht.

Aus der Fülle der 68er Bücher ragen zwei in besonderer Weise heraus. Zum einen das Original: Der Suhrkamp Verlag hat fünf Ausgaben von »Kursbuch«, dem intellektuellen Zentralorgan der 68er, neu aufgelegt und gibt so der aktuellen Debatte einen spannenden, zuweilen auch erheiternden O-Ton mit auf den Weg. Der Herausgeber, Hans Magnus Enzensberger, sinniert in einem seiner Artikel darüber, wie faschistisch Deutschland (gemeint ist die Bundesrepublik) sein könne: »Der neue Faschismus ist die Parodie der Konterrevolution.« Die Entdeckung einer Sorte von Faschismus in der alten, immerhin irgendwie demokratischen Bundesrepublik ist der zeitgeistigen Großsprecherei gestundet. Aber, dass Enzensberger für die Zukunft die »Mitte als Extrem« voraussieht, das ist spannend und hellsichtig.

Zum anderen hat der Wagenbach-Verlag ein nur äußerlich dünnes Bändchen, »68 oder das neue Biedermeier« herausgebracht. Der Autor, Albrecht von Lucke, ist erst 1967 geboren, kann also keinesfalls einer der vielen 68er Fraktionen angehört haben und sich erinnern. Vielmehr will er wissen, was 68 heute noch bedeutet, wer das Zeitereignis »besitzt«, von wem es wie und warum interpretiert wird: »Speziell für die Bundesrepublik hat 68 den Charakter einer Zäsur ... Dieses Jahr spaltet wie kein anderes die Republik.« Um diese Spaltung und die ihr innewohnenden Akte des Bereuens und Fälschens durch damalige Protagonisten zu gewichten, tut ein wenig Erinnerung not.

68 war nicht nur in Deutschland, es war überall im Westen. Es gab jugendlich geprägte Proteste in den USA, in Frankreich, Italien, England, sogar in Holland. Schon 1965 gründete sich zum Beispiel in England der »British Council for Peace in Vietnam«. In dieser Bezeichnung ist ein wesentlicher, übergreifender Grund der internationalen Bewegung benannt: der Krieg in Vietnam. Spätestens nach August 1964, nachdem die USA mit einem der üblichen Vorwände diesen Krieg ausweiteten, eskalierte auch der Protest in den USA. Auf den europäischen Straßen hätte man an der »Uniform« der Demonstranten erkennen können, worum es auch ging: um enttäuschte Liebe. Man trug neben seiner Haut amerikanische Jeans und Parkas der US-Armee zu Markte. Man protestierte im Gewand des Feindes, der doch gestern noch Freund, Befreier, das Ziel demokratischer Sehnsüchte gewesen war. Eben noch waren die amerikanischen Soldatensender und ihre mitreißende Musik Verbündete in der Auseinandersetzung mit den eigenen Eltern gewesen, und plötzlich schickte ausgerechnet der junge, vergötterte Präsident Kennedy 1961 jede Menge Militärberater nach Vietnam: Der kapitalistische Goliath wollte den sozialistischen David ermorden, das Bild der USA hatte sich geändert. Und wie immer bei Scheidungen ging es schmutzig zu: USA – SA – SS rief man auf den Straßen und über das Ziel hinaus.

Doch durchaus, bevor der Vietnamkrieg das Bild der USA bestimmte, waren auch andere Töne aus dem Land des NATO-Partners zu hören: »If you miss me at the back of the Bus« sang Pete Seeger auf den Veranstaltungen der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, und seine triumphale Zeile »you can't find me nowhere« erreichte auch gespitzte Ohren in Europa: Der Rassendiskriminierung sollte durch eine Bewegung ein Ende gemacht werden. Es gab sie immer, die zweite Stimme der USA, und ihr Einfluss reichte weit.

Albrecht von Lucke zitiert den vormaligen Bundesfamilienminister Bruno Heck (CDU) mit einem Satz von 1983: »Die Rebellion von 68 hat mehr Werte zerstört als das Dritte Reich. Sie zu bewältigen ist daher wichtiger, als ein weiteres Mal Hitler zu überwinden.« Damit erinnert er an zwei wesentliche Seiten einer Schlacht, die irgendwann in den 60er Jahren begann und die nicht beendet ist: Wer hat in jener Zeit welche Werte vertreten, und was aus dieser gesellschaftlichen Debatte hat Bestand?

Ein besonders deutscher Akzent jener Jahre war die Entdeckung, dass man in einem anderen Land lebte, als man vermutet hatte, dass die Mörder, die Judenhenker und Weltkriegsbefürworter mitten unter uns lebten, dass die Bundesrepublik ihre Herkunft verschwieg und ihre Kinder aus dem Schulunterricht und den Geschichtsbüchern in die Unwissenheit entlassen hatte. Dieses Schweigen zu brechen, war das Verdienst der 68er und zugleich ihr Hauptinstrument in der Auseinandersetzung mit den Autoritäten: Wer so beharrlich über die eigene Vergangenheit log, dem war auch sonst nicht zu trauen.

Die Vergangenheit, glaubt Enzensberger im »Kursbuch« zu wissen, sei ohne Revolution nicht zu bewältigen. Mit einem Zitat des BILD-Chefredakteurs Kai Diekmann von 2007 erinnert von Lucke an eine weitere virulente Front der alten Auseinandersetzung: 68 sei ein »Epochebruch der deutschen Gesellschaft in Richtung Egozentrik, Mittelmaß und Faulheit«. Diekmann räsoniert über Moral und die Tugenden, die durch 68 verloren gegangen seien. Auch der Bruch sexueller Tabus wird jener Zeit zugerechnet: Noch bis ins Jahr 1973 existierte der Kuppeleiparagraf im schönen Westen Deutschlands. Eltern machten sich der Kuppelei schuldig, wenn sie kopulierende Heranwachsende unter ihrem Dach beherbergten, Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren waren möglich. Ohne Trauschein in der Wohnung der Eltern beischlafen? Wozu gab es denn die Häuser, in denen die Herren ihre Erleichterung fanden? Die deutsche Doppelmoral, in der man auch immer einen netten Juden gekannt hatte, in der die Russen zwar einen Seele hatten, die Russendörfer allerdings im Krieg schon samt Inhalt verbrannt werden mussten, diese unmoralische Bewältigung der Vergangenheit und ihre Entsprechung im großen Tabu fand ihren Widerhall auf den Straßen: Dass, wer an der Enttabuisierung arbeitete, lieber »nach drüben«, in die DDR gehen sollte, hieß es. Nicht selten war die von der Springerpresse verhetzte Menge aber auch dafür, die Diskutanten noch vor dem Rübergehen zu vergasen.

Die Studenten, die sprachmächtigen Intellektuellen, bestimmten die öffentliche Debatte. Die Busse organisierte die Gewerkschaft: Im Mai 1968 versammelten sich Zehntausende aus allen Teilen der Republik in Bonn, um gegen die Notstandsgesetzgebung zu protestieren. Jenen Gesetzesentwurf einer Großen Koalition aus CDU und SPD, der den Einsatz der Bundeswehr im Falle eines »Notstandes« vorsah. Schon Anfang der 60er hatten die westdeutschen Gewerkschaften das Gesetz abgelehnt, sie waren aktiver Teil jener Außerparlamentarischen Opposition, die, von den Notstandsgesetzen über den konstatierten Bildungsnotstand bis zur Kumpanei mit den USA das System Bundesrepublik infrage stellte.

Wenn Bahman Nirumand in einem Aufsatz im »Kursbuch« die Studenten zur »Vorhut des revolutionären Kampfes« erklärt, mag man glauben, die nachwachsenden Intellektuellen seien eine besondere Rasse. Nirumand erlag einer verbreiteten Selbsttäuschung. Die in Bewegung geratenen Studenten boten den Medien die spektakulärsten Bilder, die nackten Ärsche der Kommune 1 zum Beispiel und die griffigsten Sprüche: Der Satz »Wenn es denn der Wahrheitsfindung dient«, mit dem Fritz Teufel die Aufforderung, vor Gericht aufzustehen, kommentierte, darf bis heute als kürzeste Analyse der verblasenen Autorität der Justiz gelten.

Diesem retrospektiven Medienspiegel der 68er Bewegung ist auch von Lucke erlegen, wenn er sich mit der Generationsthese von Jürgen Habermas auseinandersetzt, der in den damaligen Aktionsformen wesentlich »die privilegierte Herkunft der Studenten und Schüler aus bürgerlichen Elternhäusern« sieht, die zur Folge habe, »dass sich ihr Protest nicht in hergebrachter Weise an Disziplinierung und Lasten entzünde«. Was haben denn die 68er gemacht, in deren Städten es keine Universitäten mit ihren Möglichkeiten der Organisation gab? Sie gründeten »Republikanische Clubs«, Zentren der Außerparlamentarischen Opposition, die auch in Städten wie Nürnberg, Dortmund oder Witten der jungen Bewegung eine Plattform gab. Dort trafen sich Angestellte, ältere Intellektuelle und Gewerkschafter.

Es ist Enzensberger, der im »Kursbuch« auf einen heute fast versunkenen Aspekt der 68er Bewegung aufmerksam macht. In einer Auseinandersetzung mit Friedrich Engels, der von der Revolution behauptet hatte, sie sei »gewiß das autoritärste Ding, das es gibt«, führt er gegen die Engelssche These »die chinesische Kulturrevolution und die Lehren Mao-Tse Tungs« ebenso als eher antiautoritäre Beispiele an wie »die Politik der jugoslawischen Kommunisten«. Es kann hier nicht darum gehen, es im Nachhinein besser zu wissen. Es geht eher darum, daran zu erinnern, dass die 68er Bewegung kaum ohne den existierenden Sozialismus und die zweigeteilte Welt denkbar gewesen wäre.

Der Kalte Krieg war eine wesentliche Ursache jener antikommunistisch formulierten Disziplinierung und Formierung im Inneren der westlichen Staaten, gegen die sich die 68er auflehnten. Und wie immer in Kämpfen, so suchten auch die 68er Bündnispartner zur Durchsetzung ihrer Ziele und fanden sie in den zumindest scheinbar egalitären Modellen der sozialistischen Staaten. Auch wenn zum Beispiel die westdeutschen Gewerkschaften ungern öffentlich darüber redeten, war ihnen die DDR mit ihren sozialen Bedingungen und Absichten als unsichtbarer Dritter bei Tarifverhandlungen durchaus willkommen. So ist die aktuelle Auseinandersetzung um 68 Teil der Frage danach, wie und wo wir denn leben wollen: In einer globalisierten, börsennotierten Profitgesellschaft, die nichts anderes weiß, als die Kluft zwischen Arm und Reich zu vertiefen oder in einem »anti-elitären Verhältnis von Volk und Elite«, das von Lucke in den 68er Wünschen erkennt.

In dem Wagenbach-Band gilt der Frische und Heutigkeit der 68er Debatte als »Stachel im Fleisch« ein ganzes Kapitel. Es erinnert daran, dass 1989 nicht das postulierte Ende der Geschichte eingetreten ist und dass »die westlichen Staaten in rasendem Stillstand« verharren, statt zu einer kritischen Bestandsaufnahme des kapitalistischen Weges zu gelangen. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Kursbuch 1968. Herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger. Suhrkamp Verlag. 992 S., brosch., 25 EUR.

Albrecht von Lucke: 68 oder ein neues Biedermeier. Verlag Klaus Wagenbach. 96 S., brosch., 9,90 EUR.

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