Grauen der Wohnstuben

Appartment-Ausstellung in der Galerie Bereznitsky

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 3 Min.

»Die Museen sind tot. Die Galerien sind bürgerlich. Die Tradition der Wohnungsausstellungen ist Geschichte. Die letzte Insel des Lebens ist ein Flohmarkt.« So radikal pessimistisch lautet das Fazit des ukrainischen Starkünstlers Igor Gusew bezüglich der Lage der Kunst in seiner Heimatstadt Odessa. Nur am Starokonniy Markt finden nach seiner Aussage noch spannende Happenings und Aktionen ehemaliger Untergrundkünstler und jüngerer Kunstschaffender statt.

Aber weil Odessa in den 70er Jahren ein Zentrum der inoffiziellen Wohnungsausstellungsszene war, hat Gusew in der Berliner Dependance der ukrainischen Galerie Bereznitsky eine exemplarische »Apartement Exhibition« installiert, in der er die Werke aktueller Künstler zeigt.

Das Entree bildet eine 1986 von der Untergrund-Koryphäe Juri Leiderman mit den russischen Worten für »privat« und »öffentlich« bemalte Holztür. Gleich dahinter schließt sich ein zum Wohnzimmer umgewandelter Raum mit Couch-Ecke und Kaninchenbild an. Auf der Couch befinden sich harmlos anmutende Kissen. Erst beim näheren Hinsehen entdeckt man, dass sie mit feinlinigen Zeichnungen bedeckt sind. Stanislaw Wolaslowski hat hier das Grauen festgehalten, das in so manche harmlose und stickige Wohnstube Einzug gehalten hat: Das Fotografieren nackter und halb nackter Kinder in aufreizenden Posen.

Wolaslowski zeigt, wie eine Kamera auf ein sich in der Ecke kauerndes Kind gerichtet ist. Auf einer anderen Zeichnung ist ein Fotograf von hinten beim Justieren seiner Kamera festgehalten. Dann wieder rücken Mädchen ins Bild, die mit Riesenpenissen hantieren.

Verlässt man diesen provozierenden Ort, gelangt man zu einer mit Sperrholzplatten behangenen Wand. Auf diesen profanen Untergrund hat der Kurator selbst Ölbilder aufgetragen. Sie wirken eher wie Skizzen, sind aber durchaus inhaltsstarke Miniaturen. »Der letzte Atem« etwa zeigt einen mit einem Gesicht versehenen aufsteigenden Ballon, der von einem Knochen beschwert wird. Zwei Figuren rennen vor dieser Inkarnation einer Seele erschreckt oder jubelnd – das bleibt unentschieden – davon. Vor einem Kreuz, in dessen Mitte ein rotes Herz prangt, kniet ein Mann nieder, dessen Rücken so von Flammen umtanzt ist, dass diese wie zwei Flügel wirken. Ein Ikarus, vom Himmel geholt, sucht hier Trost.

Minimalismus und Retro-Pop-Kultur verbindet Natalia Trandafir mit ihren Schallplatten, die sie mit leuchtenden Applikationen versehen hat. Als Indiz für die (post-) sowjetische Authentizität der Wohnungseinrichtung sind in einer Ecke noch diverse verstaubte Bücher mit kyrillischen Schriftzeichen, die schematische Darstellung der Funktionsweise des Gehirns (ebenfalls russisch beschriftet) und ein Stickbild mit russischen Steppenreitern platziert.

Das Wiedererwecken des Ambientes einer Wohnungsausstellung ist durchaus gelungen; allerdings fehlt das wohl wichtigste Element: Die Versammlung rauchender, saufender und erregt debattierender Kunst- und Lebensrebellen. Der köstliche Moment eines geglückten Happenings entzieht sich der Reproduktion.

Galerie Bereznitsky, Linienstr. 144, Di.-Sa. 12-19 Uhr, bis 15.7.

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