Die Schulbusfahrerin hat ein Geheimnis

Emmanuelle Pagano gelang ein schönes, stilles Buch

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 2 Min.

Ein problematisches Thema, eine markante Landschaft und eine interessante Figurenkonstellation verbinden sich in Emmanuelle Paganos kleinem Roman »Der Tag war blau« zu einem Triptychon außergewöhnlicher Literatur.

Die Schulbusfahrerin Adèle war früher einmal ein Junge. Als ausgewachsener Mann hat sie sich einer geschlechtsumwandelnden Operation unterzogen, um endlich in der eigentlichen, der weiblichen Haut leben zu können. Sie steht im Mittelpunkt eines nachdenklich machenden Geschehens, das in einer dünn besiedelten, rauen Hochebene spielt, durch die sich der Fluss Ardèche sein Bett geschnitten hat.

Das ist auch die Heimat der 1969 geborene Autorin Emmanuelle Pagano. Sie stammt aus dem ähnlich archaischen Aveyron, ist verheiratet, hat drei Kinder und unterrichtet bildende Kunst.

Die Kinder im Schulbus von Adèle – die Kleinen aus der Grundschule und ältere aus dem Collège – wachsen in dieser unwirtlichen, lange Monate vom Schnee bestimmten Landschaft auf und werden in ihrer Unbekümmertheit zum erzählerischen Gegengewicht gegenüber den Sorgen der Hauptperson. Und immer wieder mischt sich die poetische Zeichnung von Landschaft und Wetter mit der Darstellung der existenziellen Nöte in dieser Gegend. Alles verschmilzt zu einem Szenario von Bedrohung und Beherrschung der Gefahren des Alltags.

Wie soll Adèle ihren jüngeren Bruder zurückgewinnen, der sich nach der Operation von ihr abgewandt hat? Wie soll sie ihren Geliebten, mit dem sie gern schläft, in ihr Geheimnis einweihen? Wie würden die Schulkinder und deren Eltern reagieren, wenn das Verborgene herauskommt? Sehr souverän erzählt die Autorin, wie es zu dieser Frau Adèle gekommen ist, wie aus einer frühen Neigung eine neue, ehrlichere Identität wurde. Auch im Leben der Schulkinder wird wohl nicht alles glatt gehen. Menschenwege sind nun mal oft verschlungen.

Als der Schulbus eines Tages in Schneeverwehungen steckenbleibt, entwickelt sich so etwas wie ein Überlebensabenteuer in einer Höhle. Der Wechsel von poetischer Landschaftsbeschreibung, der Nachdenklichkeit Adèles und dem Humor der manchmal auch zickig werdenden Schulkinder zum spannenden Showdown in der Höhle gelingt der Autorin sprachlich überzeugend. Adèle begegnet hier nicht nur der Verantwortung für das Leben ihrer Buskinder, sondern auch ihrer eigenen Wahrheit, die ihr ein älterer Junge ins Gesicht schleudert. Das schöne, stille Buch lässt Auswege offen, die nichts von einem Happy End haben, aber das Weiterleben ermöglichen.

Emmanuelle Pagano: Der Tag war blau. Roman. Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer-Semlinger. Verlag Klaus Wagenbach. 173 S., geb., 17,90 EUR.

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