Eine Stadt lebt ihre Historie

Das tausendjährige oberfränkische Kronach ist das ganze Jahr über Schauplatz historischer Spektakel – so auch im Sommer, wenn sich die Geburtsstadt von Lucas Cranach in die Zeiten des Dreißigjährigen Krieges zurückverwandelt.

  • Harald Lachmann, Kronach
  • Lesedauer: 6 Min.
In Kronachs Innenstadt scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Doch Spuren der motorisierten Zivilisation gibt es auch dort.
In Kronachs Innenstadt scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Doch Spuren der motorisierten Zivilisation gibt es auch dort.

Stadtvogt Hans Götz ist es zufrieden: »Der Kastner hat eine große Findigkeit im Aufspüren neuer Geldquellen!« So ruft er launig in den Saal. Es ist wieder Viertelmeistertag in Kronach, und sein Schatztruhenverwalter Markus Steller legt soeben Rechenschaft über die Finanzen der Oberen Stadt ab. Zwar stehe es um die Steuereinnahmen bedenklich, raunt der Kastner unter seinem federbesetzten Schlapphut hervor. Doch als er versichert, dass man durch den Verkauf der erst letztes Jahr eingeführten Kunigundenmaß-Krüge »an Fremde, wie etwa die protestantischen Bayreuther oder die Sachsen und Thüringer« einiges wieder einspielen konnte ins Stadtsäckel, jubelt das Volk laut auf. Denn es weiß, so muss er doch nicht die Steuern erhöhen – die Biersteuer, die Krugsteuer und vor allem die Liebessteuer.

Nach dem Kastner erhalten die Viertelmeister das Wort. Mithin jene ehrbaren Kronacher Bürger, die jeder für eines der vier Viertel der Oberen Stadt eine Art städtische Vorsteherfunktion ausüben – seit 1439 mittlerweile. Doch durchwachsen sind ihre Berichte. Einer klagt, dass wieder ein Kaufmann schließen musste, ein anderer schimpft über holpriges Pflaster oder lasterhafte Mitbürger. Nur Stefan Wicklein, der junge, bärtige Viertelmeister im zweiten Viertel, lobpreist sein Quartier als das »schönste, reichste und vornehmste«. So werde es auch reichlich von Auswärtigen besucht.

Mutige Kronacherinnen im Dreißigjährigen Krieg

Es ist halt wie alle Jahre beim Viertelmeistertag in Kronach. Die Alte Markthalle neben dem possierlich restaurierten Stadthotel »Pfarrhof« füllt sich dazu bestens mit allerlei mittelalterlich gewandeten Weibs- und Mannsvolk aus der Oberen Stadt. Diese erstreckt sich von der Stadtkirche St. Johannes und dem Bamberger Tor bis hinaus zur alles überragenden Veste Rosenberg. Und sie steht in Anmut, historischer Gewichtigkeit und spätmittelalterlicher Fachwerkpracht in nichts dem Tauberstädtchen Rothenburg nach. Nur ist in Kronach noch alles echt. Da es bislang noch von weniger Touristen überlaufen wird, sind es keine Zugereisten, sondern wirklich die Kronacher selbst, die ihre aufregend-wackere Geschichte am Leben erhalten – in Vereinen, Arbeitskreisen, Theater-, Tanz- und Musikgruppen, einer höchst agilen Bürgerstiftung und halt einzigartigen traditionellen Spektakeln. Burgfrauen wie Ratsherren, fürstbischöfliche Beamte wie Malzdörrerinnen und Würzweiber sind gewöhnliche Bürger, die zu solchen Historienszenen in authentische Robe steigen und das ganze Jahr über zu verschiedenen Anlässen den Alltag der Altvorderen ausleben. Dann feiern sie etwa jene mutigen Kronacherinnen, die im Dreißigjährigen Krieg das anrückende Protestantenheer mit kochendem Wasser begossen und so eine Einnahme der Stadt verhinderten. Bis heute erinnert ein Brunnen daran. Oder sie ziehen schalkhaft über die benachbarten Coburger her, die damals in schwedischen Diensten fochten, aber auch an Kronachs Mauern scheiterten.

Steffi Schick, die die für Kronachs Gedeihen einst wichtige Kaiserin Kunigunde gibt, ist in Wirklichkeit Lehrerin. Stefan Wicklein arbeitet im städtischen Bauamt, Bräumeister Thomas Kaiser braut allerdings wirklich Bier. Selbst der echte Rathauschef Manfred Raum steigt regelmäßig in historische Kluft und liefert sich etwa beim Viertelmeistertag mit dem fürstbischöflichen Stadtvogt Hans Götz – sonst ein seriöser Berufsschullehrer – köstliche Rededuelle, dass sich das Volk vor Lachen nur so kringelt.

Doch wenn dann der Bürgermeister die Viertelmeister für ein weiteres Jahr »mit auferhobenen Fingern gelärte Aydt zu Gott schweren« lässt, hat das schon etwas höchst Ehrfürchtiges. Haben die Vier dann diesen Schwur geleistet und mit Handschlag besiegelt, erhalten sie ihr jeweiliges Viertel als Metallamulett an einer Kette um den Hals gehängt. Dann wird es Zeit für Kunigunde und Bräumeister Thomas, ein frisches Fass Schmäußbier anzustechen, wie es so nur in der Kronacher Kaiserhof-Brauerei reift. Und schon füllen alle zum Anstoßen ihre Kunigundenmaß-Krüge: Die historische Saison 2008 ist eingeläutet!

Drei Etagen Bierkeller unter der Oberen Stadt

Was aber ist eine Kunigundenmaß? Stadtvogt Götz lacht nachsichtig: »Ach, ihr unwissenden Fremden.« Das wäre halt die historische Bierkruggröße, die vor der bayerischen Zeit in Kronach galt: 1 1/8 Liter. »Und im Einvernehmen mit den Viertelmeistern und den Schankwirten haben wir diese 2007 wieder als offizielles Maß für Flüssigkeiten eingeführt, die an historischen Festen ausgeschenkt werden«, freut er sich darüber.

Das ganze Jahr über, von Januar bis zum Weihnachtsmarkt im Advent, stellen die Kronacher Vereine originelle Feste auf die Beine. Den jährlichen Höhepunkt bildet aber wohl stets das »Historisches Stadtspektakel« am letzten Juniwochenende. Dann vermitteln die Kronacher ihren Gästen aus Nah und Fern einen authentischen Eindruck, wie es sich hier anno 1632 bis 1634 zutrug, als sie belagert, bestürmt, aber nie besiegt wurden. Unter dem Motto »Bürger leben ihre Geschichte« wirken sie dann alle zusammen, die Croniche Tanzleut und die Kroniche Gassnkinne, die Waschweibe und die Schauspieler der nach einem früheren Bürgermeister benannten Pottu-Gruppe, die Seelabacher Seiler, die Houskuh-Züchter oder die tapfern Kroniche Fraan, um nur einige zu nennen. Auch vielerlei Händler, Handwerker und fahrendes Volk erwarten die Besucher.

»Wir wollten eben keine historische Massenware präsentieren, wie sie inzwischen von vielen professionellen Anbietern verkauft wird, sondern für unsere Gäste wie für uns ein Identität stiftendes Fest schaffen«, beteuert Stadtvogt Hans Götz. Und so verpasst, wer nicht schon Freitagabend, also dem 27. Juni, zum Historienspektakel anreist, etwas sehr Wesentliches. Denn der Festzug aller Traditionsgruppen endet vor der Kirche am Melchior-Otto-Platz, wo Bürgermeister, Stadtvogt und die Viertelmeister wie seit Jahrhunderten die Bierprobe vornehmen. Nur wenn sie Wohlwollen signalisieren, darf das eigens für diesen Anlass gebraute Schmäußbräu zum Stadtspektakel ausgeschenkt werden.

»Es muss halt schmäußig sein, zu einem guten Schmause passen«, verrät Viertelmeister Stefan Wicklein bei einem Bummel, der tags darauf nicht durch sein Viertel führt, sondern unter dieses. Es ist eine Kellertour – eine Bierkellertour, wenn man so will. Denn Kronachs Obere Stadt ist fast durchgehend unterkellert. Oft bis zu drei Etagen tief trieben die Bewohner einst diese Grüfte in den weichen Sandstein, auf dem die ganze Stadt errichtet wurde. Und aus dem Stein, den sie so herausbrachen, bauten sie dann die Bürgerhäuser darüber.

Das schmäußige Bier bringt die Viertelmeister und ihre Getreuen nicht nur ins Saufen, sondern auch ins Laufen. Denn zum Viertelmeisterlauf, stets am Stadtspektakelsonntag um 14 Uhr, müssen stets zwei Läufer der einzelnen Viertel einen Tragebalken mit einem 80-Liter-Bierfass über einen Hindernisparcours balancieren. Bisher hatte hier stets Stefan Wicklein als jüngster der Viertelmeister gute Chancen. Doch da soeben im dritten Viertel der Kronacher Karnevalsprinz Jens Schick zum Viertelmeister gewählt wurde, steht ihm nun echte Konkurrenz ins Haus.

Drei Tage währt das städtische Historienfest, so wie es die Kronacher seit je mit der Zahl 3 haben. Die alte Stadtmauer ist teilweise dreifach gebaut und besaß einst drei Tore. Es gibt drei Rathäuser, drei Finanzämter, die Veste Rosenberg besitzt drei Burgtore, und die Stadt durchfließen drei Flüsse: Kronach, Rodach und Haßlach. Auch die Familie von Barbara und Hans Maler, deren 1472 in Kronach geborener Sohn Lucas sich später nach seiner Heimatstadt Cranach nannte, besaß drei Häuser. So ist bis heute nicht ganz zweifelsfrei geklärt, in welchem davon der später berühmte Maler zur Welt kam. Vielleicht im »Scharfen Eck«, heute ein uriges Altstadtgasthaus.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal