nd-aktuell.de / 12.07.2008 / Wissen / Seite 21

Zahlentheorie aus dem Bauch

Wie ein junger Büroangestellter die Heroen der Mathematik schockierte

Martin Koch

Im Jahr 1913 erhielt der bekannte englische Mathematiker Godfrey Hardy einen Brief aus Indien. Absender war ein Mann namens Srinivasa Ramanujan, der sich mit den Worten vorstellte: »Sehr geehrter Herr, ich bin Angestellter in der Hafenverwaltung von Madras mit einem Jahreseinkommen von 20 Pfund. Ich bin 26 Jahre alt und habe keine abgeschlossene Universitätsausbildung.« Er bat Hardy, sich die komplizierten mathematischen Formeln im Brief genauer anzusehen: »Da ich arm bin, möchte ich gerne meine Sätze veröffentlichen, falls Sie überzeugt sind, dass sie einen Wert haben.«

Leider war den Formeln kein einziger Beweis beigefügt, was Hardy normalerweise veranlasst hätte, den Brief in den Papierkorb zu werfen. Doch sein Gefühl sagte ihm, die Sache sei ernst zu nehmen. Tatsächlich konnte er einige der bis dato unbekannten Sätze Ramanujans beweisen. »Es war mir bald klar« schrieb Hardy später, »dass Ramanujan noch weit allgemeinere Sätze in seinem Besitz haben musste.« Aus diesem Grund holte er den jungen Inder 1914 nach England.

Und er wurde nicht enttäuscht. Die Notizhefte, die Ramanujan mitbrachte, erwiesen sich als wahre Schatztruhe. Zwar waren einige Rechnungen falsch und andere schon bekannt. Die meisten Theoreme jedoch stellten Neuland für die Mathematiker dar. Offenkundig besaß Ramanujan ein Gefühl für die Ästhetik mathematischer Strukturen, dessen Herkunft bis heute rätselhaft erscheint. Bereits in der Schule, wo er sich intensiv in eine Formelsammlung vertiefte, fiel Ramanujan durch seine Fähigkeit auf, zwischen arithmetischen Strukturen spontan komplizierte Zusammenhänge herzustellen. »Wir verstanden ihn nur selten«, erinnerte sich ein Mitschüler.

Hochkarätigen Mathematikern erging es später kaum anders. So war die Summation von unendlichen Reihen für Ramanujan eine Aufgabe, die er gleichsam aus dem Bauch heraus bewältigte. Auf ähnliche Weise gelang es ihm, verschiedene Verfahren zur Bestimmung der Kreiszahl Pi anzugeben. Eines der Verfahren, das heute seinen Namen trägt, wurde 1995 in Japan benutzt, um per Computer mehrere Milliarden Kommastellen von Pi zu berechnen.

In den fünf Jahren, die Ramanujan in England weilte, machte er sich mit den Ergebnissen und Methoden der modernen Mathematik vertraut. Außerdem legte er während dieser Zeit über 3000 neue mathematische Resultate vor, von denen viele im nachhinein bewiesen werden konnten. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, die eines indes nicht kompensierten: seine Sehnsucht nach Indien, wohin Ramanujan 1919 zurückkehrte. Da war er bereits an Tuberkulose erkrankt und starb am 26. April 1920 im Alter von nur 32 Jahren.

Ramanujan wäre wohl einer der größten Mathematiker aller Zeiten geworden, meinte Hardy, wenn er frühzeitig eine systematische Ausbildung erhalten hätte – ähnlich wie Carl Friedrich Gauß, der ebenfalls aus ärmlichen Verhältnissen stammte. In Indien, wo Ramanujan heute wie ein Popstar verehrt wird, glaubt man stattdessen, dass sich ohne die intuitive Kraft des fernöstlichen Denkens die Genialität des jungen Büroangestellten niemals entfaltet hätte. Und ohne Hardy, bleibt hinzuzufügen, würden wir nicht einmal den Namen von Ramanujan kennen. Denn dieser hatte 1913 auch andere Wissenschaftler um Hilfe gebeten, jedoch keine Antwort erhalten. Man fragt sich daher: Wie viele mathematische Talente mögen heute in der Dritten Welt noch verkümmern? Und welches geistige Potential geht der Menschheit dadurch unwiederbringlich verloren?