Narren des Glücks

Joachim Seyppel: Vier Erzählungen

  • Lesedauer: 8 Min.

Der Augenblick

Joachim Seyppel
Joachim Seyppel

Viel Unglück hatte er gehabt, war arbeitslos gewesen, lange, doch hatte endlich eine Anstellung gefunden, als Masseur. Dennoch ließ er nicht davon ab, Lotterie zu spielen, ohne je etwas zu gewinnen. Die Ehe war kinderlos geblieben. Dann wurde ein Junge geboren, Benjamin. Bei der Einschulung wies die Schulärztin auf einen Leberfleck hin, am linken Ellenbogen, das nichts Gutes verhieß, wie sie meinte, was zwar den Vater beunruhigte, keineswegs aber die Mutter. Sie beschäftigte sich mit bildender Kunst und wurde als Künstlerin erfolgreich. Benjamin trieb Sport, lief Ski, auch mit Lucie, der Tochter des Gemüsehändlers nebenan, in die er sich verliebte, mit achtzehn.

Nach der Matura, mit neunzehn, entschied er sich zum Studium der Malerei an einer Hochschule im Süden des Landes. Lucie, enttäuscht, lernte auf einer Reise einen Diamantenhändler aus Südafrika kennen, der sie heiratete. Benjamin setzte in Florenz sein Studium fort. Würde er, nach dem Examen, nach Hause kommen? Besonders fragte sich dies seine Mutter, kränkelnd. Sie starb. Der Vater, vereinsamt, ging früh in Rente, alte Freunde waren längst gestorben. Tagsüber saß er im Park, Abend für Abend im Spielkasino, hatte viel Pech, führte Tagebuch, dabei an den Sohn denkend, und fragte sich nach wie vor: Wo finde ich das Glück? Bist du ein Narr des Glücks? Bist du im Glück, erlernst du den Schmerz? Glück? Wo finden der Sohn oder die Leute Glück, die er kennt?

Lucie schrieb ihm aus Südafrika, sie habe unlängst Zwillinge zur Welt gebracht, doch sehne sie sich nach der Heimat. Ihr Mann, Diamantenhändler, sei des Betrugs überführt und in Haft. Glück? Hatte sie in der Fremde nicht gefunden. Glück, Unglück, Schicksal, Zufall, Notwendigkeit, Geschick? Fragte sich auch Benjamin. Die Studienzeit in Florenz ging zu Ende. Es war Anfang März, als er zu Haus eintraf. Die Wohnung in desolatem Zustand, ein Heizkörper war geborsten, die Zimmer kalt, Wasser auf dem Fußboden, der Vater verzweifelt. Mitternacht. Ein Klempner kam und reparierte den Heizkörper. Es war vier Uhr morgens, als der Schaden behoben war. An den nächsten Tagen saßen sie lange zusammen, Benjamin hatte zu erzählen begonnen. Und der Vater, der war glücklich. »Fürs kommende Wochenende«, sagte er eines Morgens, »habe ich Karten für die Oper, für ›La Bohème‹«, Benjamin hob die Schultern, blicke den Vater an, der ihm, in letzter Zeit, stark gealtert schien. »Daddy!«. Er goss sich Tee ein. »Daddy, Freitag, Daddy, flieg ich nach Rom, Daddy, du weißt, Daddy, ich hab ein Stipendium!« Ehe Benjamin abflog, gingen sie zum Grab der Mutter.

Rom, für Benjamin ein großer Erfolg. Er verkaufte sein erstes Bild, ein Bild von Lucie. Ende des Jahres starb der Vater. In dessen Tagebuch aus dem Nachlass, fand sich vom Tag der Rückkehr aus Florenz eine Eintragung. »Glück? Jetzt weiß ich, was Glück ist, wenn der Klempner nach der Reparatur morgens um vier die Wohnung verlässt, ja, jetzt weiß ich, was das Glück ist!«

Das Täubchen

Auch ans Fährschiff muss ich denken. An der Reling auf einer Bank hatte sie gesessen, und ich hatte mich neben sie gesetzt, als wären wir seit Langem miteinander bekannt, seit Ewigkeiten füreinander bestimmt. Doch der Moment, dieser, kehrte nicht wieder zurück, aufgelöst in Teile dieser Zeit. Sie trug ein weißes Kleid, hatte auf dem Kopf eine weiße Mütze, die sie mit beiden Händen festhielt, der Wind blies in die braunen Segel, Wasser spritzte über den Bug, als das Schiff den Hafen im Fjord verließ.

Sie lächelte mich an, lächelte mir zu, und jenes seltsame Gefühl, das wir alle kennen, sank tief in uns ein. Seitdem ist mehr als ein halbes Jahrhundert verflossen, seit den Jahren, als wir dachten, sie würden immer bleiben, seit der Herrlichkeit jenes Landes, das, ein Schwan, in der See ruhte, umsäumt von Wiesen, Rosenbüschen, Ulmen und dem Mittsommer.

Wie hieß das Städtchen? Der Geruch war nach Flieder, Teer, Lauch, Fisch, Maschinenöl, nach Behaglichkeit. Die Leute saßen auf Kisten oder Tonnen in Gassen mit Kopfsteinpflaster und lasen ihren Orts-Anzeiger bis Mitternacht. Wie lange nun währte der Briefwechsel? War er nicht bestimmt, trotz aller erhofften Ewigkeit, den Nachweis zu erbringen der Zufälligkeit und der Abgewandtheit des Lebens vom Licht? O welch Land war dies gewesen! Die Verführung eines jungen Menschen zu den Inseln des Nordens, der See des Ostens, dem möglichen Glück? Zu Furcht und Zittern, Hunger und Liebe? Zu den Mädchen, dem Täubchen?

Doch drei Tage und drei Nächte nur waren ihnen beschieden, so schmal bemessen die Zeit. Abschied am Bahnhof, dieses Winken auf dem Perron des Lebens. Ach so lange, auf dem Poller des Hafens, am Weg mit den Büschen, hinter denen das Dunkel lauerte? Seine Briefe verbrannte sie, ihre Briefe verbrannten in einer Nacht des Krieges, und wir haben uns nicht wiedergesehen, nicht in einer Kate, nicht im Tivoli, auf keinem Fährschiff, wo alle Liebe beginnt?

Hornruf

Die beiden Liebenden: Nehmen sie Abschied voneinander, wie es Liebenden geziemt? Stehen auf dem Bürgersteig, gekleidet wie immer, zögern, trauen dem eigenen Entschluss nicht mehr, sehen sich in die Augen? Abenddämmerung, von fern ein Hornruf. Fußgänger, am Hafen Feuerwerk, dann Kirchglocken. Die Hände, was tun sie mit den Händen? Sie hebt die Hand, die Linke mit einem Ring am Ringfinger, er ohne Ring. So wenden sie sich voneinander ab. Ein schwaches, leichtes Winken, schwach, und doch so lange, ewiglich lange. Sie sind für schuldig befunden worden der Liebe; der erste Fehler, geliebt zu haben, der letzte, nicht aufgehört zu haben zu lieben.

Was für ein Leben ist es gewesen? Sie zögert noch immer, beginnt zu gehen, schneller als zuvor, läuft nach links in die Nebenstraße, er nach rechts zum Hauptbahnhof. Sie denkt, sie wisse, was er denkt – sie weiß es nicht. Er denkt, was wird sie denken? Wird sie für die Wohnung einen Untermieter finden? Wo wird sie arbeiten? In welches Kino wird sie gehen? Welche Bücher lesen? Welche Zeitung? Was wird ihm in Übersee beschieden sein? Wird er das Mädchen heiraten, das vor Jahren schon ausgewandert ist und ihm geschrieben hat, sie kenne ein Unternehmen, das keinen Fachmann suche, sondern einen Menschen mit Allgemeinwissen, und sie habe ihn dort empfohlen? Wird er Arbeit finden und sie, die Zurückbleibende, ein wenig Frieden, in Dunkelheit, in Stille, in sich selbst? Dazu Kraft, wo immer sie sein werde? Sie haben Abschied voneinander genommen. Sie dreht sich noch einmal um, er ist in der Masse verschwunden, er dreht sich noch einmal um, sie wird schon am Hafen sein. Leb wohl, Liebster! Leb wohl, Liebste! Werden sie sich je wiedersehen? Auch wir wenden uns zum Gehen. Ist es ein schönes Leben gewesen?, denken wir. Werden wir es wissen? Erneut ein Hornruf.

Marylou

Zum Wochenende war ich von Marylou eingeladen, in ihre neue Wohnung, nachdem sie gerade Direktrice im Hotel Dixieland geworden war. Außerdem war ihre Freundin gekommen, Kindergärtnerin am Hafen, mit ihrem Verlobten aus diplomatischem Dienst. Marylou, »eine Schönheit mit hellen grünen Augen und kastanienbraunem Haar«, so der Verlobte, bot Köstlichkeiten zum Abendessen, Garnelen, Muscheln, Austern, dazu Champagner. Später erzählte sie von ihrer Kindheit, aufgewachsen »in der alten Welt«, wie sie gern sagte, früh verheiratet, bald geschieden. Ihre Freundin sprach nur von ihren Reisen ins Ausland, und deren Verlobter gab lächelnd zu, sich an Nennenswertes nicht erinnern zu können. Von mir wusste jeder, was ich im Krieg erlebt und dass ich jetzt eine verantwortliche Stellung im Städtischen Krankenhaus hatte. Mitternacht. Wir dankten Marylou für den Abend und verabredeten uns für die nächste Woche zu einer Dampferfahrt.

Was in der Nacht geschah, erfuhr ich am folgenden Tag. Ein Mitarbeiter der Holzexportfirma war in Untersuchungshaft genommen worden, weil er einen Kollegen im Streit umgebracht haben sollte. Der Häftling leugnete die Tat; es gab keine Beweise gegen ihn, und er hatte kein Alibi für den Zeitpunkt des Streits.

Nun war von der Polizei mit dem Hotel vereinbart worden, Marylou würde in Begleitung eines Polizisten den Häftling mit Lebensmitteln versorgen, weil das im Gefängnis nicht möglich war. Deshalb fiel der Verdacht auf sie, als man die Zelle leer und die Tür offen fand ...

Der Staatsanwalt schlug das Verfahren nieder, Marylous Anwalt hatte auf Hilfeleistung für einen Gefährdeten plädiert. Die Bewohner des Ortes fanden das lächerlich, und sie meinten, Marylou hätte entweder einen Verbrecher entkommen lassen oder einen Menschen gerettet. Anonyme Anrufe, Lobhudeleien, Drohbriefe. Gewerkschaften forderten vom Hotel ihre Entlassung. Eine Sekte bestand überhaupt auf Schließung des Hotels. Dagegen wandten sich wiederum Parteien, die auf dem Verbot der Sekte bestanden. Der Punkt war erreicht, an dem gewisse Politiker das Verbot der Parteien befürworteten. Und längst hatte man vergessen, worum es ursprünglich gegangen war.

Marylou arbeitete weiter im Hotel, sie wirkte verbittert und gealtert, soll geheiratet haben, doch kinderlos geblieben sein. Das letzte Mal traf ich sie im Stadtpark, und wir tauschten Erinnerungen aus. Und sie fragte mich, ob ich ihr eine einfache Geschichte glauben würde, eine ganz einfache Geschichte.

»Natürlich«, sagte ich, »kennen wir uns nicht lange genug?«

»Aber glauben Sie mir, wenn ich gestehen würde, dass ich es war, die jenen Arbeiter umgebracht hat, in Notwehr, weil er mich bedrohte, und dass ich dann den Untersuchungshäftling habe entkommen lassen, den einzigen Zeugen meiner Tat? Dem ich, in meiner Not, geholfen habe auszuwandern?«

»Nein«, sagte ich, »das kann ich Ihnen niemals glauben!«

Sie nickte, versuchte zu lächeln und verließ den Stadtpark in Richtung Hotel.

Joachim Seyppel, Jahrgang 1919, ist bekannt durch zahlreiche Romane und Erzählungsbände. Derzeit lieferbar sind von ihm sein Buch über Lesser Ury und seine Erinnerungen »Schlesischer Bahnhof«. Vorliegende Texte werden hier erstveröffentlicht.

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