Tasche oder Leben?

Der Wiener Essayist Franz Schuh und seine vorgezogenen »Memoiren«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Dies sind Memoiren in Form eines Selbstverhörs. Franz Schuh, geboren 1947, ist einer der profiliertesten Essayisten Österreichs und hat sich für dieses Buch also selber ins Interview gezwungen. »Eine Paradoxie der Selbstbespiegelung«. Schuh nennt das Genre Interview zwar »kommerziell, durch den journalistischen Gebrauch nicht gerade geadelt«, aber dort, wo »die Pingpongidylle aus Frage und Antwort« als Zweipersonenstück und vor allem ein Sprach-Stück verstanden wird, dort ist es unter Umständen eine Restform des »sokratischen Dialogs, fragwürdig, aber noch sokratisch genug, um philosophisch sein zu können«.

Das schriftliche Interview, so Franz Schuh, biete die Chance, sich in fremde Persönlichkeiten zu verwandeln; indem man zu ergründen versuche, »was sie eigentlich gesagt haben, um ihrer Rede die entsprechende schriftliche Fassung zu geben, beginnt man sie im emphatischen Sinne zu verstehen«.

Der Autor, der für seine Essays im vergangenen Jahr den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt, zieht in seinem Interview gegen sich selbst zahlreiche Gespräche zu Rate, die er im Lauf der Zeit unterschiedlichsten Medien gab, er nimmt »alle Fragen so, als ob ich sie selbst gestellt hätte, und alle Antworten so, als ob ein Fremder sie gegeben hätte«. Entstanden ist die Biografie eines Ansichten-Universums, das sich an Nietzsche orientiert, der in der Fröhlichen Wissenschaft jenen Menschen pries, der sich mitteilt, »wer ›bekannt‹ hat, vergisst«. Und ist also erlöst.

Schuh ist ein blitzwacher Streuner durch die eigene Profession: Ein Philosoph zum Beispiel sei gezwungen, seine eigenen Behauptungen aufrechtzuerhalten, sie zu verteidigen, der Essayist und Feuilletonist dagegen macht die Behauptung, sei sie noch so haltlos, überhaupt erst zum Thema. Schuh nutzt die Chance des Interviews, um von Thema zu Thema zu springen, aber zugleich dämmt er diese Sprunghaftigkeit wieder ein, indem sich Antworten zu kleinen Essays verdichten; die Interviewfrage hier und da lediglich als Kapitelüberschrift mit Fragezeichen.

Der Wiener nennt sich einen scheinpolitischen Menschen, er hat für sein Leben andere innere Gerichte als die der Politik aufgeschlagen. Seine Politisierung bezeichnet er als »proletaroid-kleinbürgerlich«, bekennt aber seine Freude darüber, flexibel in den Zeitläuften zu stehen: Dass einer sich auch an die wechselnden Momente des Zeit verliere, sei Teil der Lebenslust, »es gibt keine Dauer, der man ganz und gar seine Gegenwärtigkeit opfern soll«.

Von seinem Vater sei er indoktriniert worden, dass die Oberschicht »die schlechteren Menschen sind« – solcher Art Einschwörung sei gut für jeden, der »von unten« kommt, man sei stolz »dass man niemand ist, und das ist eine sehr ausbaufähige Position«.

Marx und Hegel hat der Flaneur durch alle Gegenden des Überbaus gut studiert, seine Fähigkeit, »fanatisch entflammbar zu sein«, ist geringer als seine Ängstlichkeit, und im Übrigen dränge es ihn nicht ins Politische oder streng Weltanschauliche, denn der Mensch hat ohnehin nicht genug Möglichkeiten, alles aufzuarbeiten, »was für ein adäquates Verständnis der Welt aufgearbeitet gehört«. Es komme nicht darauf an, sich zuvörderst gegen etwas festzulegen und zu definieren, sondern zu lernen, die verschiedenen Groß- und Kleinsysteme, in denen sich der Mensch im Laufe seines Lebens bewegt, nach Kräften auszuhalten.

Schuh ist einer der freundlichsten Fatalisten seiner Sparte. Freiheit bedeutet ihm die »Wahl zwischen einer Gefangenschaft und einer anderen Gefangenschaft, und in diesen Gefangenschaften kann man nicht mehr tun, als versuchen, aus den Gittern herauszusehen«. Das ist keine Bösartigkeit gegen den Menschen, das ist keine Absage an die Hoffnung, das ist keine Verachtung der Engagierten – Schuh ist ein Freund und Anwalt des Menschenschutzes: Es sind die Überforderungen durch das Ideelle, die nach Schüben der Euphorie in die Hilflosigkeit stürzen. Noch aus jeder vermeintlichen Hauptstraße der Geschichte sei eine Sackgasse oder, schlimmer noch, ein Trümmerpfad geworden. Der Mensch sei nicht bloß ein Bürger, ein Teil des Gemeinwesens, seine Existenz sei mehr wert. Vor allem dürfe man – Schuh erinnert an Montaigne – nicht ständig Glück oder Unglück abwägen; ob ein Dasein eher glücklich oder unglücklich zu nennen sei, möge man den Bilanzstunden der Spätzeit überlassen. Solange man das Ende noch nicht nahen fühle, solle man vor allen Dingen – leben. Es gehöre Disziplin und ein Talent dazu, aufs Glück zu warten – »unter der Voraussetzung, dass man Glück als solches nicht anstrebt, sondern dass man Bestimmtes tun, erreichen will, und indirekt stellt sich schließlich das ein, was man in seinem Selbstverständnis Glück nennen kann.« Allerdings ist Schuh Dialektiker genug darauf hinzuweisen, dass allzu große Bescheidenheit in Lebensdingen nie ganz zur Tugend werden kann, »das Faktum der Triebhaftigkeit« bringt den Menschen immer wieder ins Ehrgeizige hinein.

So kann man dieses Buch durchgehen, die Kapitel über Österreich, über das Vergessen, über den Glauben oder über Statusprobleme aufschlagen – Schuh, in seinem Habitus durchaus Helmut Qualtinger ähnlich – entwirft ein wunderbar unordentliches philosophisches Sammelsurium, das in einer Geschichte über Taschen endet. Der Autor ist ein Fanatiker von Taschen, Sinnbildern einer Gegenständlichkeit, die zugleich, vor den Augen der Welt, so viel verbirgt. Und niemand weiß, wie schwer wohl ist, was man mit sich schleppt. In der Tasche. Im Leben.

Franz Schuh: »Memoiren. Ein Interview gegen mich selbst«. Paul Zsolnay Verlag Wien. Geb., 281 S., 21,50 EUR

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