nd-aktuell.de / 18.07.2008 / Kommentare / Seite 14

Den Wunsch der Betroffenen respektieren

Winfried Beck
Den Wunsch der Betroffenen respektieren

In der Debatte über Sterbehilfe werden voneinander unabhängige Inhalte regelmäßig vermengt. Wer sich für die Straffreiheit von Sterbehilfe einsetzt, dem wird postwendend unterstellt, er sei gegen Palliativmedizin und schade der Hospizbewegung. Als ob beides einander ausschlösse. Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass diese Versorgungsebenen Defizite zeigen und dringend ausgebaut werden müssen. Es besteht uneingeschränkte Übereinstimmung, dass die Begleitung Sterbender unter Aufwendung aller helfenden und vorhandenen Mittel weiter verbessert werden muss.

Was aber ist mit Menschen, die nach reiflicher Überlegung und jenseits aller Versorgungsangebote nichts als ihren Tod herbeisehnen? Vielleicht weil ihnen trotz allen medizinischen Fortschritts die Schmerzen nicht genommen werden können, weil sie – aus welchen Gründen auch immer – eine Bilanz ihres Lebens gezogen haben, die im Suizid den einzigen Ausweg sieht, auch wenn Außenstehende diesen Entschluss möglicherweise nicht nachvollziehen können. Nicht nur Schmerzen und unheilbare Krankheit kommen als Motiv in Frage, aus dem Leben scheiden zu wollen. Sind diese Menschen nicht auch in Not und auf Hilfe angewiesen? Sie dürfen genauso wenig allein gelassen werden wie Sterbende, die mit jeder Faser ihres Körpers am Leben hängen und dieses Leben unter allen Umständen verlängern möchten. Aber die ärztlichen Standesverbände, die Mehrzahl der Politiker (im Gegensatz zur Mehrheit der Bevölkerung) und die Vertreter der christlichen Religion haben die Selbsttötung tabuisiert und stigmatisiert.

In einer Welt, die schon allein die Anerkennung eines solchen Wunsches negativ besetzt, bleibt diesen Menschen oft kein anderer Ausweg als der Sturz von einem Hochhaus, der Sprung vor die Bahn oder eine andere grausame, aus der Verzweiflung und Isolation geborene Methode der Selbsttötung, sofern sie dazu überhaupt in der Lage sind. Häufig scheitert der Versuch, so aus dem Leben zu gehen, bleiben dauerhaft Schäden, wächst die Verzweiflung. Unsere auf ihre Humanität so stolze Gesellschaft hat für diese Menschen nichts als kaltes Wegsehen. Wer die Zahl der Suizide – schon allein das Wort Selbstmord diskriminiert – senken will, muss in jeder Hinsicht vorbeugend handeln. Lebensmüden Menschen muss die Angst genommen werden, ihre Umgebung lasse sie im Stich, habe für ihr subjektiv berechtigtes Verlangen, aus dem Leben scheiden zu wollen, nur Verachtung.

Schon allein das Wissen, in der letzten Not Hilfe für ein selbstbestimmtes Lebensende zu erhalten, kann entscheidend sein, sich wieder dem Leben zuzuwenden. Aufschlussreich und entlarvend sind die Parallelen in der Debatte um die Abschaffung des Paragrafen 218. Wie bei der Sterbehilfediskussion stand die Selbstbestimmung, das autonome Individuum, im Zentrum: »Mein Bauch gehört mir« war die eingängige Parole. Damals mussten Frauen mit einem Wunsch nach Abtreibung wie heute Menschen mit Sterbewunsch nach England oder Holland ausweichen, wenn sie sich in ihrer Heimat nicht lebensgefährlichen Praktiken aussetzen wollten. Heute müssen Menschen mit Sterbewunsch in die Schweiz fahren. Die beiden großen christlichen Kirchen und die offizielle Ärzteschaft waren und sind wie bei der Sterbehilfe die dominierenden Gegner einer Liberalisierung.

Ärzte, die bereit waren, gegen ein meist hohes Honorar eine Abtreibung durchzuführen, riskierten eine Freiheitsstrafe genauso wie begleitende Ehemänner, sowie heute Sterbehelfer. Die offizielle ärztliche Standesvertretung stand auf der Seite der sogenannten Lebensschützer, für die Abtreibung schlicht Mord war. Als im Magazin »Stern« (Nr. 24/1971) prominente Frauen bekannten: »Wir haben abgetrieben«, war die Aufregung groß. Erst als im »Stern« (Nr. 5/1989) Frauen sich erneut zahlreich und öffentlich dazu bekannten, abgetrieben zu haben, sowie Männer bekannten: »Wir waren mitbeteiligt« und sogar Ärzte forderten: »Weg mit diesem Strafgesetz«, folgte schließlich eine echte Liberalisierung mit der heute gültigen Fristenlösung. Erst 1995 war die Abtreibung straffrei.

Es gibt jedoch auch wesentliche Unterschiede bezüglich Schwangerschaftsabbruch und Sterbehilfe und die erklären vielleicht die Abwesenheit einer groß angelegten Kampagne: Der Paragraf 218 betraf alle Frauen im gebärfähigen Alter, Menschen in einer Lebensphase höchster Leistungsfähigkeit. Sterbewillige kommen erst durch eine schwere Lebenskrise und meistens in hohem Alter in die hilfsbedürftige Situation. Woher sollen sie dann noch die Kraft zur Durchsetzung ihrer Interessen nehmen? Es besteht Konsens, dass sich niemand an der Hilfe zum Sterben bereichern darf. Die Einbindung von Ärzten in Kliniken und Praxen könnte hier öffentlich einen kontrollierbaren Schutzwall vor derartigen Praktiken bedeuten. Es ist umso bedauerlicher, dass die öffentliche Ärzteschaft hier mit dem Strafgesetzbuch droht. So werden Menschen in Not geradezu in die Hände kommerzieller Organisationen getrieben.

Viele haben den mit einem Oscar preisgekrönten Film »Das Meer in mir« gesehen, die Verfilmung des Lebens von Ramon Sampedro, der jahrelang juristisch um das Recht auf Selbsttötung kämpfte und dazu ohne fremde Hilfe, an Armen und Beinen gelähmt, nicht in der Lage war. In seinem Testament schrieb er u. a.: »Meine Herren Richter. Das Eigentum an unserem eigenen Körper zu verweigern, ist die größte der kulturellen Lügen. Für eine Kultur, die das Privateigentum von Sachen als heilig betrachtet – darunter Erde und Wasser – ist es ein Irrweg, das allerprivateste Eigentum zu verweigern, unsere Heimat und persönliches Reich: unsere Körper, Leben und Gewissen, unser Universum.«

Sterben ist Teil des Lebens, es wird in der Regel bewusst erlebt. In dieser letzten Lebensphase den Menschen zu helfen, ist nicht nur eine humane Aufgabe, sondern entspricht dem ärztlichen Selbstverständnis, professionelle Hilfe unter allen Umständen – und gerade auch bei einem Sterbewunsch – zu gewähren und diese Hilfe nicht in der schwersten und letzten Stunde eines Menschen aus formalen Gründen zu entziehen.

Dr. Winfried Beck, Jahrgang 1943, ist Orthopäde und arbeitete als Praxis- wie auch als Klinikarzt. Von 1976 bis 1996 war er für die bundesweit erstmals kandidierende »Liste demokratischer Ärztinnen und Ärzte« Spitzenkandidat in der Landesärztekammer Hessen. Winfried Beck war von 1986 bis 2003 Vorsitzender des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte (vdää), dem er bis heute als Mitglied angehört. Der Beitrag stellt ausschließlich die persönliche Meinung des Autors dar.