Des Menschen Einmaligkeit

Spannungsgeladen und erfreulich: »Silvester mit Balzac« von Wolfgang Kohlhaase

  • Hans Bentzien
  • Lesedauer: 4 Min.

Erst auf den letzen Seiten des Erzählbändchens erfährt man, was es mit dieser Silvesterfeier auf sich hat. Als der Band zum ersten Mal 1977 bei Aufbau erschien, war sein Autor als Filmschriftsteller bekannt, ja berühmt, als Erzähler von Prosa allerdings noch nicht ausgewiesen. Nun liegt eine Neuausgabe in einem anderen Verlag vor, und das alte Lesevergnügen stellt sich in weit höherem Maße ein. Liegt es am zunehmenden Alter, liegt es daran, dass man diese Art von Genauigkeit der Schilderung bei Wolfgang Kohlhaase, der Gerechtigkeit gegenüber den Schicksalen seiner Figuren kaum noch in der Gegenwartsliteratur kennt, die Überraschungsmomente, die unerwarteten Wendungen, die Ausgewogenheit des Ausdrucks?

Bevor man auf Balzac in Budapest stößt, muss sich der Leser mit der Berlinerin Inge und ihren Flirts im April und im Mai 1945 in Adlershof vertraut machen. Zuerst lässt sie sich von einem erwachenden Jüngling küssen, dann taucht ein anderer auf, sie schwirrt ab, der Genasführte unerwünscht hinter den beiden her und stößt immer wieder auf die einrückende Rote Armee, die völlig anders daherkommt, als man erwartet hatte. Leben und Tod, Krieg und Frieden verweben sich auf unwirkliche Weise und doch ganz real. Überhaupt passen die Gestalten auf den 200 Seiten in keines der von älteren und auch jüngeren Theoretikern der 70er Jahre gepriesenen Schemata. Sie priesen Vielfalt und forderten Helden aus Abziehbildern, die sogenannten Helden unseres sozialistischen Alltags, und was der Phrasendreschereien mehr waren.

Unseren Alltag, den fand man wohl, wenn auch in der bekannten unerhörten, literarischen Ausprägung, doch Helden sucht man vergebens. Wolfgang Kohlhaase zeigt die Originalität eines jeden Menschen, den er ins Licht setzt. Er schiebt ihn weder in die Gruppe der Helden oder Bösewichter, solche Kategorien interessieren ihn wahrscheinlich gar nicht, sondern sucht nach seiner einmaligen Bedeutung für andere, nach dem Beitrag, den nur er leisten kann, durch den er unersetzbar ist. Das alles lesen wir in scheinbar einfachen Vorgängen, die sich aber bei näherer Betrachtung als unerwartet problematisch erweisen.

Der junge Zimmermann Jochen Biesener sucht nach einer eigenen Familie, muss dabei, nach vielen Schritten ans Ziel gekommen, Größe zeigen und fordert sie dadurch auch seiner Umwelt ab. Schon vor der Hochzeit hat er eine sehenswerte Schar um sich versammelt und wird glücklich dabei sein. Das Wort »Liebe« kommt nicht vor, jedoch spürt der Leser bei dieser rührenden Geschichte die Liebenswürdigkeit des Erzählers in jeder Zeile.

Die 13 Erzählungen wurden viel besprochen und gelobt. Der Autor meinte nur, er hätte probiert, und für ihn sei die Sache damit erledigt. In der Tat ist seitdem keine weitere Erzählung erschienen. Hat er nur Filmszenen erprobt, erweitert, Stoffe geprüft? Er lässt nicht häufig in seine Werkstatt blicken, wenn er einmal ein Interview größerer Art zulässt, wird gleich ein Essay daraus. Seine Erzählkunst steigt auf einsame Höhen, wenn er vor nicht allzu großem Publikum aus dem Gedächtnis berichtet, etwa über seine Segeltouren auf dem Scharmützelsee mit Ludwig Turek in dessen stählernem Boot und in Begleitung einer reizenden Kollegin als Segelnixe dazu. – Man mag danach nicht auseinandergehen. Ende des Jahres hat er unserem Kulturverein wieder zugesagt, da werden die Stühle wahrscheinlich nicht reichen, wie immer.

Auch seine freie Erzählung ist von untrügerischem Formgefühl bestimmt. Ob im Film oder in seiner Prosa, alle Handlungsstränge sind zu ihrem logischen Ende geführt. Nichts ist aufgesetzt oder gewaltsam gelöst, der Erzählfluss trägt den Leser, der ihm unbewusst erliegt. Man glaubt der Geschichte, wenn man auch nicht sicher ist, dass sie geschah. So die Entdeckung eines Totenschädels, weil eine Eidechse hineingekrochen ist und dabei ein rostiger Nagel zum Vorschein kommt. Der untersuchende Kriminalkommissar findet zwar den Grund, erweist sich aber nach dem Erfolg als Verzeiher, nicht als Jäger.

Nicht so ungewöhnlich geht die Geschichte von der Schneiderin mit ihrem Untermieter aus, die vermeintliche Liebe schlägt ins Gegenteil um. Ebenso riskant die »Erfindung einer Sprache«, auch hier geht es um Kopf und Kragen. Und in der Schlusserzählung »Silvester mit Balzac«? Geht es nur um die Flucht vor dem zum Jahresende zu erwartenden Wiedersehen mit der Ex-Frau, um eine Reise nach Ungarn, wo nach guter Hoffnung alles chaotisch gerät und schließlich nur eine Stunde mit einem alten Buch bleibt? Hat hier gar seine Frau Emöke die Hand im Spiel gehabt und es so eingerichtet, dass man die Verwicklungen einigermaßen verstehen, aber nicht erklären kann? Ist das ungarisch? Auf jeden Fall ist die Lektüre spannungsgeladen und erfreulich.

Wolfgang Kohlhaase, Silvester mit Balzac. Berliner Taschenbuch Verlag. 224 S., brosch., 8,90 EUR.

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