Blühen, abseits jedes Blicks

Am heutigen Sonnabend wird der Dichter Reiner Kunze 75 Jahre alt

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Im Dunklen sei alles vorstellbar, heißt es in einem Roman des Österreichers Robert Menasse. Vielleicht ist Literatur ein blindes Sehen: Die Welt zeigt sich, weil ein Mensch nur tastet nach ihr. Die Unsicherheit nimmt das Zutrauen an die Hand und ordnet nichts ein, bevor nicht Berührung stattfand.

Reiner Kunze tastet. Konsequente Geduld mit den unbestimmbaren Rationen der Erleuchtung schufen ein schmales, aber großartiges poetisches Werk. Mit den Jahren hat sich diese lakonische, minimalistische Dichtung, die auf Orientierung und Position im Leben aus ist, doch mehr und mehr ins Geheimnis des Unausgesprochenen gewagt. Ins Religiöse? Poesie ist für Kunze etwas Frommes, weil das Leben uns frommen möge. Was da frommen, also nutzen soll? Das Ja zur Existenz. Dieses Leben darf niemand, will er Mensch bleiben, auf eigene Rechnung führen, aber kompromisslos muss er es – so der Titel eines Gedichtbandes – »Auf eigene Hoffnung« tun.

»sensible wege« (1969 im Westen erschienen, gewidmet dem tschechischen und slowakischen Volk), »zimmerlautstärke«, »eines jeden einziges leben« – diese Titel von Gedichtbänden verweisen auf ein Dasein abseits der Hauptstraßen, kennzeichnen den langen Zwang zur Gedämpftheit beim Verbreiten der Wahrheit, behaupten die Kostbarkeit, da sich drei Buchstaben zur Kostbarkeit fügen: Ich, und sie singen die Gefahr, wenn man Ich bleiben will inmitten aller.

1977 verlässt der in Oelsnitz geborene Bergarbeitersohn Kunze mit seiner Familie die DDR, er lebt seither in Bayern. Nach frühem, praktiziertem Idealismus, der in die SED-Mitgliedschaft führte, arbeitete sich an ihm nun aller Hass, alle Schikane, alle Beeinträchtigung ab, zu der staatliche Verfolgungssystematik fähig war. Einer der vermeintlichen Greizer Freunde, Manfred Böhme, erwies sich als einer der infamsten Spitzel, nannte sich später Ibrahim Böhme und machte in der Wendezeit SDP-Karriere. 1973 war zwar bei Reclam noch Kunzes »Brief mit blauem Siegel« erschienen, aber die traurige Gnade des Exils, dem wegen Westveröffentlichung des Buches »Die wunderbaren Jahre« ein Ausschluss aus dem DDR-Schriftstellerverband vorausgeht, ist wohl schon zu dieser Zeit nicht mehr abzuwenden.

Poesie ist widersetzlich. Sie träumt. Aber illusionslos. Das ist das harte Brot der Dichtung: Sie möchte als Einbildungskraft Schmerzen lösen, kann dies aber oft nur erreichen durch schmerzendes Ausgesetztsein in kruden Wirklichkeiten. Mit ihren Träumen schafft Poesie Welt, doch ist weltschaffende Poesie, so Kunze, nicht gleichzusetzen mit weltverändernder Poesie. Erstere wird »für ihre scheinbare Wirkungslosigkeit mit ewigem Leben belohnt«, während zweitere, »der flammende Aufruf, die zielgerichtete Zweckpoesie, verurteilt ist, mit ihrem Zwecke selbst zu enden«. Kunzes Kunde vom sozialistischen Realismus.

In einem Vers seines jüngsten Bandes »lindennacht« beschreibt er den »Rest einer alten Gartenhecke«, Weißdorn und Rotdorn: »Die zweige schäumen/ rot in weiß,/ weiß in rot// Holz, das blüht/ auf leben und tod«. Da ist sie, die Zusammengehörigkeit des Blühens mit dem Vergehen, und das Blühen wird eine Seite weiter als etwas Gnadenreiches betrachtet – das aus einer Existenzenergie wächst, die des so eifrigen und oft verhängnisvollen menschlichen Lenkungs- und Ordnungsehrgeizes nicht bedarf. »Was blühen muß, blüht/ in geröll auch und gestein/ und abseits jedes blickes«. Das erinnert an Joseph Roth, der schrieb, der wahre Gute werfe dem Bittenden die Münze so in den bereitliegenden Hut, dass es Gott nicht unbedingt sehe. Wer will, dass Gott die Güte sieht, feilscht schon.

»Schöpfer seiner selbst// Seiner selbst/ bewußt sich werdend,/ erschrak es// und schuf/ sich seinen schöpfer«. Das ist unser Bewusstsein. In sechs Zeilen die ganze Not und die ganze Hybris, die ganze Angst und die ganze geistige Rettungstechnik aus Mystifikation und religiösem Überbau. Wir glauben – weil wir nicht fertig werden würden mit der Erkenntnis dessen, was wir wirklich sind. Wir benötigen, um existieren zu können, den Schutz einer Idee, die uns steigert.

Kunzes Gedichte wissen um den Preis, den es kostet, sich nicht brechen zu lassen, und zwar von den Verlockungen jener höheren Einsicht, die einem Menschen derart viel vernünftiges Denken einpflanzen kann, dass er es eines Tages schafft, sich völlig schmerzfrei in den dialektisch gewundenen Begründungen seines Versagens aufzuhalten. Die Geschichte der großen Ideen, erzählen dieses Kristallblitze aus Versen, ist nicht sehr befreundet mit der Wahrheit des Lebens. »Wer letztlich recht bekommt/ vom leben, stirbt/ einsam«.

Kunze lesen: glückhafte Kapitulation: Wir unterwerfen uns einem Ton, der uns bis eben gefehlt hat. Und der lebensrettend in uns anschlagen kann. Und uns stärker macht, als die Wirklichkeit zulassen möchte. Für seine Frau schreibt der Dichter: »Des spiegels unerbittlichkeit/ vermag uns nicht zu täuschen// Wir wissen mehr/ als er«.

Es war leicht vorstellbar, wie die Vorurteile der alten Haudraufs auf östlichem Gelände sich wieder strafften, als Kunze vor Jahren auf einem CDU-Parteitag sprach oder zum Tag der Einheit. Als sei dies Feindberührung nach alter Rechnung. Aber ist der Ort nicht egal, an dem man so Ortsübergreifendes sagt? Die Kritischen seien im Osten wie im Westen »in der Minderheit, und wenn sie die Stirn bieten, tun sie es als Einzelgänger«. Und Kunze verwies am politisch umblumten Rednerpult auf die Verhaltensforschung: An der Erhaltung des Lebensstromes wirkten ein konservatives und ein progressives Konstruktionsprinzip, und in dieser Auseinandersetzung dürfe es keinen Sieger geben. »Erst wenn wir das begreifen und bereit sind, den Widerstreit auszuhalten und dabei einander zu achten, werden wir in uns eine der Voraussetzungen kultiviert haben, nicht nur Feiertage zu begehen, sondern alle miteinander zu feiern.«

Leiser Dichter, sanfter Dichter, aber die Stirn, die er bietet, lässt doch auf eine gewisse Grundhärte schließen. Der Panzer ist nicht Eisen, er heißt Gedächtnis. Kunze hat gelebt, was mürbe machte, und es ist wohl wahr: Immer der Furchtsamste fährt die herbsten Stacheln aus. Tut es mit der Rechtmäßigkeit eines Machtlosen, der seine Erfahrungen nicht zu entwürdigen bereit ist. Wenn Kunze redet und schreibt, so ist dies ein Tonikum für alle, denen es an Durchblutung mit Vergangenheit mangelt. »Siebzehnjährig« hieß eines seiner DDR-Gedichte: »Wir sind jung/ die welt ist offen (lesebuchlied)// Horizont aus schlagbäumen// Verboten/ der grenzübertritt am bildschirm ein bild/ von der welt sich zu machen es lebe/ das weltbild// Bis ans ende der jugend// Und dann?«

Dieses Werk weiß von Traumatisierungen, von Bespitzelungen, und es weiß vom Aufatmen im Westen: »Ein Deutscher sagt von einem Teil Deutschlands, auch dies sei sein Land. Worin besteht da die Sünde? ... Wenn meine Mutter aus ihrer Baracke auf den Kirchturm von Auschwitz geschaut hat – zweieinhalb Jahre zwischen Leichen –, dann hat sie von diesen lächerlichen bürgerlichen Freiheiten geträumt, die wir geringschätzig mit Fragezeichen versehen.«

Zwei Zeilen nur: »Den Literaturbetrieb fliehend« steht darüber, und dann eine Beobachtung, die wohl auf sehr viele Betriebe des In-der-Weltseins zutrifft; ein Vers, der so wunderbar einleuchtend die Vorsicht bittet, dem Menschen zur Seite zu gehen, wenn er hinauf und hinaus will. Denn: »Sie wollen nicht deinen flug, sie wollen/ die federn«.

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