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  • ND-Serie Gemeinschaftsschule

Quantensprung in das Lernen von morgen

Gemeinschaftsschulen gehen ganz neue und bislang unbekannte Wege

  • Lena Tietgen
  • Lesedauer: 5 Min.
In den vergangenen Wochen erläuterte »Neues Deutschland« in einer Serie die wichtigsten Begriffe um das Konzept der Gemeinschaftsschule. Wenn im September in Berlin das »Pilotprojekt Gemeinschaftsschule« startet, ist damit die Hoffnung auf eine Schule verbunden, in der mehr Bildungsgerechtigkeit existiert, die Lehrern wie Kindern wieder Spaß macht und zu besseren Leistungen führt. Da Gemeinschaftsschule mehr als ein längeres gemeinsames Lernen bedeutet, braucht sie auch eine andere Pädagogik. Die achte und letzte Folge der Serie beschäftigt sich deshalb noch einmal mit dem dem Konzept zu Grunde liegenden Paradigmenwechsel.

In der ARD-Sendung »hart aber fair« vom 20. August 2008 stellte der Moderator Frank Plasberg eine bedeutsame Frage: »Armutszeugnis für die Schule – sparen wir die Zukunft unserer Kinder kaputt?«. Die Frage versprach eine um Kriterien von Schule und deren Umsetzungsmöglichkeiten zugespitzte Diskussion. Leider kam es aber nicht dazu. Der Moderator sorgte mit seiner Feststellung, die Diskussion um Schulmodelle sei in erster Linie eine ideologische, dafür, dass die Debatte letztlich von seinen Gästen in der Tat ideologisch geführt wurde. Dabei ist es mitnichten eine ideologische Frage, welches Schulmodell gut für Kinder und deren Lernerfolge ist.

Wissenschaftliche Studien weisen immer wieder darauf hin, dass das deutsche Schulsystem den Anforderungen der Wissensgesellschaft denkbar schlecht gerecht wird. Der normierte Zugang zur Bildung selektiert nicht nur übermäßig viele Schüler, sondern legt auch Lernbereitschaft und -vermögen lahm. Als Folge wird in der wissenschaftlichen Diskussion ein Wechsel von der Lernziel- zur Kompetenzorientierung als notwendig formuliert. Die Frage, ob diese Veränderung in einem mehrgliedrigen oder eingliedrigen Schulsystem erfolgen soll, ist in der politischen Auseinandersetzung noch nicht entschieden, ein eingliedriges Schulsystem scheint nach allen Erkenntnissen aber die beste Alternative zu sein. Und dafür gibt es gute Argumente.

Eine Schule der Inklusion

Mit der Gemeinschaftsschule ist der Gedanke der Inklusion verbunden, also der Teilhabe aller und die Aufhebung der Unterscheidung in ein »Innen« und ein »Außen«, wie es etwa selbst in sogenannten Integrationsklassen zum Ausdruck kommt, denen Kinder mit Förderbedarf zugeteilt werden. Hier spiegelt sich, wenn man so will, die Vorstellung einer Gesellschaft wider, die eine homogene Kultur herausgebildet hat, in der Normen festlegen, wer welche Leistung erbringt und wie diese zu bewerten ist. Es gibt Menschen, die aufgrund der Erfüllung dieser Leistungsnormen dazugehören und welche, die diese Anforderungen nicht schaffen und deshalb draußen bleiben müssen. Dem sich hierdurch immer wieder auftretenden sozialen Spannungsfeld wird allgemein mit der Forderung nach Integration begegnet. Dafür stellt die Gesellschaft die nötigen Bedingungen bereit, um den Betroffenen bei diesem Anpassungsprozess zu helfen.

Inklusion hingegen berücksichtigt, dass in einer Gesellschaft häufig Mischkulturen entstehen, deren Bedeutung durch die Globalisierung ständig zunimmt. Zudem zeigt die Geschichte, dass weder eine »reine« Kultur noch eine homogene Sprache existierte. Ausgangspunkt des Verständnis von Inklusion ist daher der gleiche Wert aller zu erbringenden Leistungen, angepasst an die Begabungen einschließlich auftretender Behinderungen (Handicaps). Die Gemeinschaftsschule trägt durch ihren Ansatz des individuellen Lernens in heterogenen Gruppen diesem Umstand Rechnung.

Die Frage, ob Menschen mit Handicaps oder jene aus einem anderen Kulturkreis in Gemeinschaftsschulen gut aufgehoben sind, ist demnach keine ideologische, sondern eine nach der personellen und finanziellen Ausstattung der Schule. Somit steht die Politik in der Pflicht, die über die Verteilung finanzieller Ressourcen entscheidet.

Eine Schule der Vielfalt

Inklusion heißt Pluralität. Wenn keiner ausgewiesen werden kann, wenn das Ganze durch jeden konstituiert wird, haben wir die Vielfalt, die Menschen hervorbringen. Auf der Grundlage der Partizipation soll in Gemeinschaftsschulen durch den Verzicht der Abschulung dieser Vielfalt entsprochen werden. Individuelle Lernpläne, persönliche Hilfestellungen und gemeinsame Lerngruppen sind die Formen, in denen Vielfalt gelebt wird. In ihnen entsteht entlang von Rahmenplänen die Vielfalt der Lernmöglichkeiten und des Erkenntnisgewinns. Dieser Sprung in ein integrales Denken ist der Paradigmenwechsel, von dem im Zusammenhang mit der Gemeinschaftsschule die Rede ist.

Diese Gedanken sind nicht neu. Zum einen begleiten sie reformpädagogische Ansätze der Neuzeit seit Rousseau. Zum anderen finden sie sich zum Beispiel auch im Schulsystem der DDR. Der Reformpädagogik mangelt es an Ausbreitung in die Fläche, so dass Kinder über Stigmatisierung oder sozialen Druck ausgesondert werden können. Hingegen erfasste das Schulsystem der DDR die gesamte Gesellschaft, konnte aber über den ideologischen Zugriff und den Sonderschulen für Kinder mit physischen und psychischen Schädigungen weiterhin selektieren. In § 5 der ersten Durchführungsbestimmung zum Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem der DDR ist der Erziehungsauftrag wie folgt benannt: Die Kinder sind »zu geistig und moralisch hoch stehenden, körperlich gesunden Persönlichkeiten und zu fleißigen, aufrichtigen, ordnungsliebenden, hilfsbereiten und verantwortungsbewussten Menschen sowie zu guten sozialistischen Staatsbürgern der Deutschen Demokratischen Republik zu erziehen, die die gesellschaftliche Entwicklung bewusst mitgestalten und die Regeln des sozialistischen Zusammenlebens einhalten«. Dieser Zugriff schnürte leider all den entwicklungsfreudigen, am Individuum ausgerichteten Ansätzen die Luft ab.

Eine Schule der Pragmatik

Der skizzierte Paradigmenwechsel erzeugt sicherlich bei vielen Verunsicherung, Ängste und Abwehrhaltungen. Wenn individuelle Lernpläne erstellt werden, wenn kein Sitzenbleiben mehr möglich ist, wenn der Kompetenzerwerb und die intelligente Anwendung von Wissen im Vordergrund stehen, wenn Rahmenpläne Orientierung bieten und Lehrer den Lernprozess nur noch begleiten statt anleiten sollen, was strukturiert dann die Schule überhaupt noch? Es wird ein anderer Pragmatismus in den Schulalltag einziehen. Wissen schaffen, Pläne erspielen, Erkenntnisse diskutieren – die Kommunikation unter allen Beteiligten wird an die erste Stelle treten.

Nur: Was »hält die Welt im Inneren zusammen«, wenn Religion, Bildungskanon und Ideologie ihre Gültigkeit verlieren? Die Frage bleibt an dieser Stelle offen. Erst im Dialog der verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte, mal im Widerstreit, mal im Konsens, mal als Teil der politischen Auseinandersetzung, mal im praktischen Versuch zeichnen sich Antworten ab. Mit den ersten Gemeinschaftsschulen, wie in Schleswig-Holstein und jetzt in Berlin, verbreitert sich die Diskussion.

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