nd-aktuell.de / 29.08.2008 / Politik / Seite 8

Mehr als ein Karadzic-Prozess

Für die Niederlande geht es in Den Haag vor allem um Srebrenica

Tobias Müller, Amsterdam
Der Prozess gegen den Ex-Präsidenten der bosnischen Serbenrepublik hat für die Gastgeber des Tribunals eine besondere Bedeutung: Er könnte die niederländischen Blauhelmsoldaten als Mitverantwortliche des Massakers von Srebrenica entlasten.

Kriegsverbrechen, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit – die Liste von Anklagepunkten ist lang. Doch wenn Radovan Karadzic heute nach einmonatiger Pause erneut vor dem Jugoslawien-Strafgerichtshof in Den Haag erscheint, konzentriert sich die niederländische Öffentlichkeit vor allem auf seine Rolle bei dem, was hierzulande als schlimmstes Kriegsverbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg gilt: die Ermordung von – international von Kritikern allerdings auch angezweifelten – rund 8000 bosnischen Muslimen in der UN-Schutzzone Srebrenica 1995. Karadzic soll bei deren Planung maßgeblich beteiligt gewesen sein.

Dass die 600 in der Enklave stationierten niederländischen Blauhelmsoldaten den Massenmord nicht verhinderten, hatte in Den Haag schwere politische Folgen und führte 2002 zum Rücktritt der damaligen Regierung unter Ministerpräsident Kok. Dieser übernahm damit zwar die Verantwortung für die gescheiterte Mission. Die Schuld jedoch verwies er an die bosnisch-serbische Armee.

Dennoch haftet der Vorwurf einer Mitverantwortung den Dutchbat-Truppen bis heute an, zumal sie die Trennung von vermeintlich kampffähigen Männern und Jungen vom Rest der Bevölkerung hinnahmen, die wenig später exekutiert wurden. Die Hinterbliebenen-Vereinigung »Mütter von Srebrenica« forderte von den Vereinten Nationen und dem niederländischen Staat gar Schadensersatz. Ein Gericht in Den Haag wies die Klage kurz vor der Festnahme Karadzic' jedoch ab.

In Den Haag dagegen beruft man sich darauf, die Massaker seien von langer Hand geplant und daher von den leicht bewaffneten Blauhelmen nicht zu verhindern gewesen. Der Prozess gegen Radovan Karadzic soll diese Perspektive bestätigen. Der in Srebrenica beteiligte Blauhelmsoldat Johan de Jonge erklärte gegenüber Radio Netherlands: »Ich hoffe, den Menschen werden die Augen geöffnet, dass es Pläne gab, bestimmte Bevölkerungsgruppen auszulöschen.« Auch nach Einschätzung von Ton Zwaan vom Center for Holocaust and Genocide Studies der Universität Amsterdam könnte durch diverse Enthüllungen »deutlich werden, dass die Niederlande höchstens eine unterstützende Rolle spielten, dass die internationale Gemeinschaft sie im Stich ließ und wer die wirklichen Täter waren.«

Vor zwei Jahren wurde »Srebrenica« in den Kanon historischer Ereignisse aufgenommen, die im niederländischen Geschichtsunterricht obligatorisch sind. Dies zeigt die enorme Bedeutung, die dem Thema in der Öffentlichkeit des Landes zukommt. Wobei der Versuch, die niederländischen Soldaten als Opfer der Ereignisse zu rehabilitieren, ein wesentlicher Bestandteil ist. Zugleich tritt die niederländische Regierung mit Blick auf mögliche EU-Beitrittsverhandlungen mit Serbien vehement als »moralische Instanz Europas« auf und beharrt darauf, dass mit Karadzic und General Mladic erst die beiden mutmaßlichen Hauptverantwortlichen für Srebrenica an das Jugoslawien- Tribunal ausgeliefert werden müssten. So weit geht in den Forderungen gegenüber Belgrad kein anderes EU-Mitgliedsland. Dass dem bisherigen zuständigen Richter, dem Niederländer Alphons Orie, letzte Woche der Fall Karadzic entzogen wurde, hat nach Angaben des Jugoslawien-Tribunals jedoch nichts mit dieser Konstellation zu tun. Karadzic selbst hatte zuvor Ories Befangenheit beklagt.