nd-aktuell.de / 05.09.2008 / Sport / Seite 3

Die Wassernixe aus Wasbek

Kirsten Bruhn tritt bei den Paralympics in China an. Sie holte bereits bei den Spielen in Athen vor vier Jahren vier Medaillen. Nun will sie wieder viel Edelmetall aus dem Wasser fischen.

Dieter Hanisch, Neumünster
Von morgen an ist die Jagd auf Medaillen in Peking wieder eröffnet. Bei den Paralympics hat Deutschland 170 Behindertensportler dabei. Unter ihnen ist eine Sozialversicherungsfachangestellte aus der kleinen schleswig-holsteinischen Gemeinde Wasbek bei Neumünster: Kirsten Bruhn. Die Schwimmerin tritt für den Polizei-SV Union Neumünster an und hält mehrere Schwimmweltrekorde in ihrer Klasse.
Kirsten Bruhn in ihrem Lieblingselement, dem Wasser
Kirsten Bruhn in ihrem Lieblingselement, dem Wasser

Die 38-Jährige erzielt sportliche Ergebnisse, vor denen es den Hut zu ziehen gilt. »Sie bewegt sich auf einem Niveau, das ist gleichbedeutend mit Hochleistungssport«, sagt ihr Vater und Trainer Manfred Bruhn. Zur Vorbereitung auf das große Ereignis in China hat sie sich wieder gequält und täglich viele Trainingskilometer zurückgelegt. Sitzt man ihr dann nach einer noch so anstrengenden Trainingseinheit gegenüber, huscht schnell wieder ein Lachen über ihr Gesicht.

Die Behindertenschwimmerin genießt inzwischen bundesweite Bekanntheit. Der Handicap-Sport hat auch Dank ihres Dazutuns an Renommee gewonnen. Seit ihrem Paralympics-Triumph von Athen sammelt sie weiter Titel und Bestmarken. Die Anerkennung dafür ist nicht ausgeblieben. 2004 und 2005 wird sie zur Behindertensportlerin des Jahres in Deutschland gekürt. Inzwischen gehört sie zu den auserwählten Athleten des Paralympics-Top-Team, das von Bundespräsident Horst Köhler ins Leben gerufen wurde.

Schwimmerin seit dem dritten Geburtstag

Ob als Kundenberaterin an ihrem Schreibtisch, beim Fernseh-Talk neben dem deutschen Staatsoberhaupt, bei Sponsorenterminen, beim professionellen Fotoshooting, bei Gala-Veranstaltungen im Abendkleid oder wie zuletzt bei der Vorstellung der Paralympics-Kleiderkollektion in Düsseldorf – Kirsten Bruhn legt stets eine betörende Lockerheit an den Tag. Damit hat sie sich selbst prädestiniert als internationale Botschafterin für den Behindertensport. Seit dem 7. Februar darf sie sich offiziell so nennen. Das in Bonn ansässige Internationale Paralympics Komitee (IPC) hat die Wasbekerin zu einer von elf Aktiven-Sprechern ernannt.

Im Bad am Stadtwald in Neumünster bewegt sie sich geschmeidig wie ein Fisch durch das Wasser. Im Ausdauer- und Kraftbereich ist Kirsten Bruhn bereits gut trainiert. Doch ihr akribischer Hang zur Perfektion lässt sie unermüdlich an der eigenen Atem- und Wendetechnik feilen, am Schwimmstil oder die Abläufe am Startblock üben. In Neumünster ist man stolz auf den berühmten Trainingsgast. Eine Bahn ist immer für sie reserviert, egal, zu welcher Uhrzeit sie ins Wasser möchte. Auch ihr Arbeitgeber, die AOK Schleswig-Holstein, ermöglicht Kirsten Bruhn alles, damit sie auf ihr großes sportliches Ziel zuarbeiten kann. Sie wird für Wettkämpfe und Lehrgänge freigestellt. »Ich kann mich nicht beklagen«, so die mehrfache Weltrekordlerin. »Das geht aber alles nur, weil mich die Deutsche Sporthilfe unterstützt, andere Gönner helfen und ich mich immer auf meine Familie verlassen kann«, spricht die »Wassernixe« gleich ein mehrfaches Dankeschön aus.

Im nassen Element hat sie sich von klein auf pudelwohl gefühlt. Bereits mit drei Jahren hat sie das Schwimmen gelernt, mit zehn kämpft sie bereits im Verein um zehntel und hundertstel Sekunden. Auf Landesebene gehört sie schnell zu den Besten, zu höheren sportlichen Weihen fehlt dann doch ein Stückchen. Auch als Wasserballerin hat sie ihren Spaß.

Kirsten Bruhn, 1969 als jüngstes von fünf Geschwistern geboren, lebt ihre sportliche Veranlagung voll aus, steigt begeistert aufs Surfbrett oder jagt die Skipisten herunter. Man erkennt in ihr die Lebefrau mit klarem Berufsziel. Nach dem Abitur und einem einjährigen Au-pair-Aufenthalt in den USA hat sie 1991 ein Grafik-Design-Studium in Hamburg vor Augen. Während eines Griechenland-Urlaubs auf der Insel Kos mit ihrem damaligen Freund krempelt ein Schicksalsschlag ihr Leben total um. Bei einem Ausflug mit dem Motorrad verunglücken die beiden. Ihr Begleiter kommt mit dem Schrecken davon, doch bei Kirsten Bruhn sorgt ein Trümmerbruch für eine inkomplette Querschnittslähmung: die Vordermuskulatur in den Beinen funktioniert noch, die hintere dagegen nicht mehr.

Die zuvor so vitale junge Frau ist seitdem auf Gehhilfen und die meiste Zeit auf den Rollstuhl angewiesen. Einhergehend mit der zwei Jahre dauernden Reha-Maßnahme muss sie psychisch erst mal mit ihrer neuen Situation klar kommen – die vielleicht größte mentale Herausforderung in ihrem Leben. Doch an der Seite ihrer Eltern, Geschwister und guter Freunde packt sie diesen Lebensabschnitt, beginnt 1993 eine Ausbildung bei der AOK. Als Bewegungsausgleich entdeckt sie wieder das Wasser. 2002 lässt sie sich überreden, einfach so aus Spaß an einem Wettkampf mit Behindertenschwimmern mitzumachen. Daraus ist seitdem eine neue Berufung geworden, und was für eine!

»Ehrgeizig bis unter die Haarspitzen«

Von den Deutschen Meisterschaften in Berlin kehrt sie mit einem Titel über 50 Meter Rücken zurück. Die Schleswig-Holsteinerin toppt das noch mit einem Weltrekord bei den Kurzbahn-Titelkämpfen in Chemnitz über 50 Meter Brust – der Anfang einer beispiellosen Karriere. Inzwischen ist die Bruststrecke ihre Paradedisziplin. Unwiderstehlich durchpflügt sie mit treibenden Armzügen und einem gewaltigen Zug des Oberkörpers das Wasser.

Von ihrem athletischen Körper springt eine Tätowierung auf ihrem linken Schulterblatt ins Auge. Das keltische Schriftzeichen ziert seit 2004 ihren Körper, ist Glücksbringer in Athen gewesen, sind doch einmal Gold, zweimal Silber und einmal Bronze herausgekommen. Kirsten Bruhn: »Es hat nichts zu bedeuten. Es hat mir damals einfach nur gefallen.« Sie wird in den kommenden Tagen über 50, 100 und 400 Meter Freistil ins Wasser gehen sowie über 100 Meter Rücken und 100 Meter Brust. Ein Mammutprogramm. Jeweils vormittags sind die Vorläufe, am späten Nachmittag geht es um die Medaillen. Am meisten fürchtet sie sich vor einer Erkältung. Ein Schnupfen, ein verspannter Nacken, und schon können die Medaillenträume platzen.

»Sie ist selbstkritisch und ehrgeizig bis unter die Haarspitzen«, kennt der 69-jährige Manfred Bruhn das Innenleben seiner Tochter, auch wenn sie nach außen ruhig wirkt; eine Fassade, denn Kirsten Bruhn ist vor jedem Start leicht nervös. Sie gesteht: »Ich habe das Gefühl, je älter ich werde, desto schlimmer wird es.« Dennoch hat sie den Spagat von Anspannung und Konzentration bis heute immer in den Griff bekommen, so dass sie aus der Situation heraus einen persönlichen Kick macht und den nötigen Adrenalinschub in eine Leistungsexplosion umwandeln kann. Dem gebührt Respekt, und mit dieser Eigenschaft wird die Schwimmerin daher inzwischen auch zu Managertagungen als Referentin in Sachen Motivationstraining gebucht.

Auf unterschiedlichem Parkett gibt die gebürtige Eutinerin eine exzellente Figur ab. Sie könnte locker als »Miss Paralympics« durchgehen. Wer Zweifel hat, sollte sich ihre ästhetischen Aktaufnahmen ansehen, die vor drei Jahren vom Fotografenpaar Sonja und Michael Inselmann für ein Kalenderprojekt mit Paralympicsteilnehmern in Greifswald gemacht wurden. Kirsten Bruhn ist eine kreative und modebewusste Frau. Früher hatte sie noch genügend Zeit, sich um eigene Schnittmuster zu kümmern und sogar eine eigene kleine Schmuckkollektion zu entwerfen. Über Jahre hat sie die Ölmalerei begeistert. Inzwischen ist sie froh, wenn sie in einem hektischen Alltag genügend Ruhe und Entspannung bekommt.

Manfred Bruhn begleitet seine Tochter auf eigene Kosten nach China. Er hat sich um Tagesakkreditierungen im Water Cube bemüht, will seine Tochter aber auch im Olympischen Dorf besuchen. »Es gibt zwar offizielle Bundestrainer, doch Kirsten vertraut nun mal ganz auf meine Trainingspläne«, so der Ex-Polizeibeamte, der seit 30 Jahren Trainer beim Polizei-SV Union Neumünster ist. Kirsten Bruhn ist sportlich mit dem väterlichen Rat bisher prima gefahren. Nur in einer Sache hadert er mit ihr: »Bezüglich Ernährung hört sie nicht auf mich. Als Leistungssportlerin isst sie zu wenig.« Die Erfolgs-Tochter verdreht ihren Kopf leicht, schmunzelt verlegen, nimmt die Worte kommentarlos zur Kenntnis und bestellt sich erst einmal einen Becher Latte macchiato.

Folgende Starts stehen für Kirsten Bruhn in Peking an: 8. September, 100 m Freistil; 10. September, 100 m Rücken; 11. September, 400 m Freistil; 13. September, 100 m Brust; 14. September, 50 m Freistil. Die Vorläufe finden jeweils an den Starttagen ab 15 Uhr MESZ, die Finals ab 23 Uhr MESZ statt.