Beim Malen sahen Feininger die Hühner zu

Vor 100 Jahren entdeckte der Künstler die Ostseeinsel Usedom mit Stift und Skizzenblock

  • Steffi Schweizer
  • Lesedauer: 5 Min.
Mittels einer Feininger-Zeichnung wurde die Mühle saniert.
Mittels einer Feininger-Zeichnung wurde die Mühle saniert.

Wenn der Pommer an der Usedomer Ostseeküste »Ein mächtiger Sir!« sagt, dann meint er das anerkennend und zugleich ein wenig ironisch. Vielleicht haben sie ja den Gentleman aus Berlin damals so genannt? Denn mit Anzug, Krawatte und Zigarre mag Lyonel Feininger unter den Fischern und Bauern wie ein Exot gewirkt haben. Doch immerhin baten sie den berühmten deutsch-amerikanischen Maler im aufkommenden Zeitalter der Bürokratisierung, dass er ihnen die vom Amt geforderte neue Nummerierung auf das Holz der Kutter male. Es gab wohl sonst keinen unter ihnen, der mit Farbe und Pinsel umgehen konnte. Dann eben einen echten Feininger aufs verwitterte Holz. Dafür wollten sie ihm im Winter Fisch schicken.

Überraschende Einblicke ins Hinterland

Ob dieser angekommen ist, weiß man nicht. Aber immer wieder fuhr Lyonel Feininger zwischen 1908 und 1918 von Berlin an die Küste, um per Rad mit Stift und Skizzenblock die Insel zu erkunden. Die so entstandenen rund 1350 Bilder und Skizzen bieten überraschende Einblicke ins Hinterland mit seinen Windmühlen, Hügeln, Kirchen, geheimnisvollen Wasserschlössern, Wolkenformationen und Häfen. Er malte Männer mit Sensen in Hut und Weste. Nach Hause schrieb er, dass ihm dabei die Hühner zwischen den Füßen herum liefen. Das wohl bekannteste Bild jener Zeit zeigt die Kirche von Benz. Bis kurz vor seinem Tod im Jahr 1956 in New York hat Feininger sie immer wieder gemalt.

Die kleine Gemeinde Benz befindet sich rund zehn Kilometer vom Ostseestrand entfernt und ist mit Galerie und Holländerwindmühle ein kulturell inspirierender Ort. Doch über Feiningers Wirken hier weiß man bislang recht wenig. Das soll sich nun ändern. Im 100. Jubiläumsjahr von Feiningers Ankunft wird intensiv an einem 63 Kilometer langen Rundweg gearbeitet, der über die Orte Benz, Neppermin, Balm und Heringsdorf bis ins polnische Swinoujscie führt. So können Urlauber und Einheimische die Wirkungsstätten des Malers und Grafikers auf eigene Faust erforschen.

Schatz, der lange nicht erkannt wurde

Als der »Sir« vor 100 Jahren zum ersten Mal auf die Insel kam, logierte er zunächst im vornehmen Seebad Heringsdorf in der Villa »Zander« mit allem Komfort. Als es ihm dort zu laut wurde, zog er sich ins Achterland zurück. Martin Meenke vom Amt Usedom-Süd hat sich gemeinsam mit dem Benzer Bürgermeister Karl-Heinz Schröder und dem früheren Pfarrer Martin Bartels zum Feininger-Forscher entwickelt. »Natürlich weiß man schon lange, dass Feininger hier war«, sagt Meenke. »Aber die Initialzündung kam für mich erst mit einer Ausstellung, die ich Anfang der 90er Jahre in Regensburg sah. Da ist mir bewusst geworden, welchen Schatz wir hier haben.«

Feininger hat in den zehn Jahren seiner Usedomaufenthalte eine überwältigende Fülle an Motiven hinterlassen, manche Straßenzüge zeichnete er jedes Jahr und hielt so die Entwicklung der Dörfer fest. 1910 beispielsweise bekam Benz Strom. Die Zeichnung von 1909 zeigt die gelben Fachwerkhäuschen in der Labömitzer Straße noch ohne Leitungen und Masten. Auf der Zeichnung ein Jahr später kann man sie schon sehen. Die Bilder befinden sich heute in Italien, Australien und Cambridge.

Für Enrico Tesch aus der Benzer Fritz-Behn-Straße scheint es nichts besonderes zu sein, dass der weltberühmte Künstler einst in seinem Haus Quartier bezog. »Das ist doch 100 Jahre her«, sagt er. Es klingt, als bedeute es ihm nicht viel. Aber er beschäftigt sich seit Jahren mit der Geschichte des Dorfes. Als ihm Martin Bartels auf der Suche nach einem genauen Malstandort eine Zeichnung zeigte, rief er überrascht: »Dat is doch ut mien Schlaapzimmer!« Die Perspektive stimmt, das Bild entstand offensichtlich an einem Fenster im ersten Stock – dort, wo früher die Fremdenzimmer waren. »Man fühlt in den Bildern einen Hauch von Usedomflair der aufkommenden zwanziger Jahre«, sagt Martin Meenke.

Auf den Spuren des Malers über die Insel radeln

Das dünn besiedelte südliche Hinterland ist ein Paradies für Wander- und Naturfreunde, wo noch heute viele der Malstandorte wieder zu erkennen sind. Nur manchmal versperren hohe Tannen die Sicht, wurde ein Haus abgerissen, verschwand Kopfsteinpflaster unter Asphalt.

Der Radweg auf den Spuren Feiningers sieht auf der Karte aus wie eine quer gelegte acht mit einem großen und einem kleinen Kreis. Die kleinere Tour beginnt in Heringsdorf und umfasst die meisten der ausgewählten 43 Standorte. Wer sich auf den Weg machen will, sollte mindestens eine halbe Tagestour einplanen und etwas Kondition mitbringen. Denn immerhin geht es in der Usedomer Schweiz auch zum 29 Meter hohen Mühlenberg hinauf, wo die Windmühle steht, die als Museum zu besichtigen ist. Eine detailgetreue Feininger-Zeichnung lieferte wertvolle Hinweise für ihre Wiederherstellung. Im Dorf Neppermin, das Feininger mal »Peppermint« und mal »Nevermind« taufte, gibt es kaum eine Ecke, die er nicht festgehalten hat. Selbst auf den ersten Blick unscheinbaren Wegekreuzungen entsteigt eine große Poesie. Auf der schön ausgebauten Uferpromenade kann man ausruhen. Zweimal wöchentlich legt ein großer Segelschoner an, der die Gäste nach Wolgast und Zinnowitz bringt. Im nur zwei Kilometer entfernten Balm, wo Feininger einst den gastierenden Zirkus malte, machen heute vorwiegend Golfer Urlaub.

Eine schöne Ansicht bietet sich in Mellenthin. Das Wasserschloss aus dem Jahr 1575 wurde kürzlich aufwändig rekonstruiert und hat dabei die Spuren der Geschichte bewahrt. Ob deftiges Rittermahl oder heiße Waffel – in jedem Fall findet der Radler hier einen gastlichen Ort, um sich vor der Rückfahrt zu stärken.

  • Infos: Usedom Tourismus GmbH, Waldstraße 1, 17429 Seebad Bansin, Tel.: (038378) 47 71 19, www.usedom.de
  • Eine kostenlose Radkarte mit der Feininger-Tour bekommt man in den Touristinformationen von Ahlbeck, Heringsdorf und Bansin
Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal