Brüssel und der Koalitionskrach in Kiew

Der EU-Ukraine-Kooperationsrat erörtert heute die beschleunigte Westintegration des Landes

  • Manfred Schünemann
  • Lesedauer: 3 Min.
Am Dienstag tagt in Evian bei Paris der EU-Ukraine-Kooperationsrat. Vor dem Hintergrund des Georgien-Konflikts ist geplant, Kiew demonstrativ eine beschleunigte Westintegration anzubieten. Dazu soll der politische Rahmen für Verhandlungen über eine vertiefte Kooperation, einschließlich eines Freihandelsabkommens, vereinbart werden.

Die innenpolitischen Realitäten in der Ukraine dürften der Umsetzung der weitreichenden EU-Pläne erneut Grenzen setzen. Unmittelbar vor dem heutigen Treffen kam es in der letzten Woche zum offiziellen Bruch der »Orangefarbenen Regierungskoalition«. Nach einer Parlamentssitzung erklärte die Fraktion von Präsident Viktor Juschtschenko (Unsere Ukraine – Selbstverteidigung des Volkes) das Ende der Koalition mit dem Wahlblock von Ministerpräsidentin Julia Timoschenko (BJUT). In Fernseherklärungen gaben sich Präsident und Ministerpräsidentin gegenseitig die Schuld am Koalitionsbruch und bezichtigten den jeweils anderen des »Verrats nationaler Interessen« und der »Vorbereitung eines Staatsstreichs«.

Formaler Anlass für den seit Langem – vor allem vom Präsidentenlager – geplanten Bruch der Regierungskoalition war das Zusammengehen der BJUT-Fraktion mit der Partei der Regionen (PdR) und den Kommunisten (KPU) bei Abstimmungen in der Werchowna Rada. Dabei ging es um Gesetze zur weiteren Einschränkung der Machtbefugnisse des Präsidenten entsprechend der Verfassungsreform von 2006. Außerdem verhinderte diese »neue« Parlamentsmehrheit die Verabschiedung einer Resolution zum Georgien-Konflikt, in der Russland einseitig verurteilt und die Position von Präsident Juschtschenko gebilligt werden sollte.

Die eigentlichen Ursachen für die Zuspitzung der andauernden Staatskrise liegen tiefer und überschatten schon seit Jahren die Gesellschaftsentwicklung in der Ukraine. Im Kern geht es immer wieder um die tiefe Zerrissenheit in Grundfragen der Entwicklung und zum Platz der Ukraine zwischen Russland und dem Westen. Das Unvermögen der politischen Kräfte, dazu einen tragfähigen nationalen Konsens herbeizuführen, brachte das Land immer wieder an den Rand von Staatskrisen. Verstärkt wird dieses Unvermögen durch das unverhohlene Machtstreben der wichtigsten politischen Akteure und der hinter ihnen stehenden Kreise im In- und Ausland.

Die weitere Entwicklung ist offen. Das ursprünglich vom Juschtschenko-Block mit dem Koalitionsbruch verfolgte Ziel, den Weg für ein Zusammengehen mit der PdR zu öffnen, scheint nach dem unabgestimmten Agieren Juschtschenkos im Georgien-Konflikt kaum noch realistisch. Wie Meinungsumfragen und die Protestaktionen gegen US-amerikanische Schiffe in Sewastopol zeigen, lehnt die Wählerschaft der PdR den Konfrontationskurs gegen Russland und die Forcierung eines NATO-Beitritts entschieden ab. Daher würde ein Zusammengehen mit dem Juschtschenko-Block die Wahlchancen der PdR und ihres Chefs Viktor Janukowitsch erheblich schwächen.

Eine dauerhafte Koalition zwischen dem Block Julia Timoschenko und der PdR scheint ebenfalls auf Grund der prinzipiellen Gegensätze kaum möglich. Sie würde zur Zerreißprobe für die Partei der Ministerpräsidentin werden. Allerdings ist eine pragmatische Zusammenarbeit bis zu den regulären Präsidentenwahlen Ende 2009, Anfang 2010 oder bis zu vorgezogenen Parlaments- und Präsidentenwahlen durchaus vorstellbar. Julia Timoschenko hat in ihrer Erklärung zum Koalitionsbruch zumindest Bereitschaft zu einem solchen Deal signalisiert und »Gespräche mit allen Parteien« angekündigt. Fraglich bleibt aber, ob die PdR und Viktor Janukowitsch auf den immer wieder geforderten Rücktritt der Ministerpräsidentin verzichten werden.

Die politische Situation in der Ukraine wird für Wochen und Monate außerordentlich labil bleiben. Das wird die angestrebte engere Kooperation mit der EU gewiss nicht erleichtern. Obwohl dieser Kurs unter den wichtigsten politischen Kräften der Ukraine unstrittig ist, bleiben Legislative und Exekutive durch den Koalitionsbruch und den beginnenden Wahlkampf in der nächsten Zeit paralysiert. Das macht eines erneut sehr deutlich: Die Ukraine wird einen wesentlich längeren Zeitraum für die Lösung ihrer Probleme benötigen, als vom Westen erhofft. Bestrebungen, diesen Prozess durch einen raschen NATO-Beitritt zu beschleunigen – wie im Zusammenhang mit dem Georgien-Konflikt von politischen Kreisen in den USA und der EU propagiert –, sind kontraproduktiv. Sie führen zu einer noch tieferen Spaltung der ukrainischen Gesellschaft und gefährden auf Dauer die innere Stabilität des Landes.

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