»Ich lerne, arbeite an mir...«

Zum 75. Todestag von Max Hoelz – Ein Besuch im Gefängnis

  • Lesedauer: 7 Min.
Max Hoelz in Moskau
Max Hoelz in Moskau

Am 15. September jährt sich zum 75. Mal der Todestag von Max Hoelz. Aus diesem Anlass sei hier ein Auszug aus dem Bericht von Michail Kolzov in der Moskauer »Pravda« vom 18. September 1927 über den Besuch bei Hoelz im Sonnenburger Gefängnis Anfang September 1927 widergegeben. Der Besuch war ein einmaliger Vorgang, denn Hoelz, 1921 zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt, wurde in Einzelhaft und fast ohne Kontakte zur Außenwelt gehalten.

Michail Kolzov (1896-1940), seit 1918 Mitglied der KP Russlands/Bolschewiki, seit 1921 ständiger Mitarbeiter, später Chefredakteur der »Pravda«, war international aktiv und bekannt, u.a. als Organisator des antifaschistischen Schriftsteller-Kongresses 1935 in Paris zur Verteidigung der Kultur und Autor des »Spanischen Tagebuchs«, in dem er als Teilnehmer (1936-1937) die bewegenden Ereignisse des Bürgerkrieges in Spanien reflektierte (Hemingway setzte ihm ein literarisches Denkmal in seinem Spanien-Roman »Wem die Stunde schlägt« in Gestalt des sowjetischen Journalisten Karkov). Kolzov wurde in der Nacht zum 13. Dezember 1938 – unmittelbar nachdem er auf Wunsch Stalins am 12. Dezember vor sowjetischen Schriftstellern über den gerade erschienenen »Kurzen Lehrgang der Geschichte der KPdSU« referiert hatte – in der »Pravda«-Redaktion verhaftet, 13 Monate lang unter Folter verhört und, beschuldigt der Spionage u. ä., am 2. Februar 1940 erschossen.

Max Hoelz, im Juli 1928 amnestiert, seit August 1929 in der Sowjetunion lebend, erinnerte sich an die »Begegnung mit dem ›rasenden Journalisten‹ der Sowjetunion« in einer Zuschrift an die »Pravda« vom 12. August 1930: »Diese bewegende Begegnung brachte mir eine unbeschreibliche Freude... Ein Genosse aus dem ersten Arbeiterstaat kam mit einem Gruß von den russischen Arbeitern und Bauern und überbrachte ihn uns, den deutschen Genossen, die im Gefängnis schmachteten. Die Findigkeit des Gen. Kolzov brachte es fertig, die Gefängnisleitung zu überlisten. Wenn der Direktor des Sonnenburger Gefängnisses gewusst hätte, wer da mit mir sprach, hätte er in Wut sofort befohlen, mich in die Zelle zurückzuführen, und Kolzov die Tür gewiesen. Michail Kolzov hatte das durchschaut und vermochte es, als ein alter guter Bekannter von mir aufzutreten, dazu als Nichtrusse. Noch Wochen und Monate nach diesem Ereignis sprachen wir im Gefängnis über diesen Erfolg des ›rasenden Journalisten‹. Er brachte uns eine große Freude und lenkte uns von der schrecklichen Einsamkeit der Gefängnishaft ab.«
Ulla Plener



»Du weißt, dass der Herr Direktor es nicht erlaubt, über die Bedingungen zu sprechen, unter denen Du gehalten wirst. Darum frage ich einfach: Wie fühlst Du Dich?« Hoelz blinzelt und zeigt mit ganz jungem, verschmitztem Lächeln zwei Reihen ausgezeichneter fester Zähne. »In letzter Zeit viel besser. Nur der Rheumatismus macht mir sehr zu schaffen. Aber sonst – einigermaßen.«

Bis in die letzte Zeit war Hoelz in mehreren Gefängnissen, durch die man ihn aus irgendwelchen Erwägungen schleppte, allen möglichen Demütigungen und Schikanen ausgesetzt. Er musste mehrfach in den Hungerstreik treten, ganze Kriege mit den Gefängnisbeamten durchstehen, ihre Willkür erleiden. Aber all das spiegelt sich nicht in seinem Gesicht wider. Keinerlei Nervosität. Keinerlei Hysterie. Ein lebhaftes, gesundes, nachdenkliches Gesicht, große schwarze ironische Augen mit wachen Lachfünkchen in ihrer Tiefe ...

Hoelz wird unter gewöhnlichem Gefängnisregime gehalten, ohne jede Nachsicht. Die einzige, aber für ihn höchst wichtige Vergünstigung, erreicht durch Hungerstreiks und Proteste, ist die Erlaubnis, Bücher zu erhalten; zu lesen und zu schreiben. Hoelz nutzt diese Möglichkeit vollständig, bis zum Äußersten aus. »Ich stehe um 4 Uhr auf, lege mich um 8 Uhr schlafen. Zwei Stunden wende ich für Gymnastik, Abreibung mit kaltem Wasser und Erholung auf. Die gesamte übrige Zeit sitze ich mit Feder und Buch in der Hand am Tisch.« Ganze Bücherstöße sind gelesen, studiert, konspektiert. Hoelz hält in der Hand die Liste der Titel seiner kleinen Bibliothek, die die Hälfte seiner Zelle einnimmt. »Ich möchte buchstäblich wahllos alles lesen. Denn wir alle, die revolutionären Arbeiter, sind halbgebildet, und ich bin völlig ungebildet in die Bewegung gekommen. Da muss man sich beschränken, systematisch lesen, um besser und mehr zu schaffen.« Auf Hoelz' Tisch liegen Arbeiten zur Psychoanalyse neben den »Problemen der chinesischen Revolution« von Bucharin; Agronomiebücher neben den »Fragen des Leninismus« von Stalin; Gorki, Forel, Darvin, Kautsky, alle Leninbände. Er ist beunruhigt: Es heißt, in der neuen Leninausgabe gebe es früher nicht veröffentlichte Artikel, aber in deutscher Sprache kann man das alles noch nicht beschaffen.

»In letzter Zeit studiere ich sorgfältig alle Materialien über die Opposition in der KPdSU.« – »Nun und?« Hoelz wird sehr lebhaft. »Über mich hat irgendjemand dort in der Freiheit Gerüchte verbreitet, ich würde mit der russischen Opposition und unseren Ultralinken sympatisieren. Das entspricht nicht im Geringsten der Wahrheit. Bei all meiner in den Jahren der Revolution angesammelten persönlichen Sympathie für die heutigen Hauptoppositionellen – Trotzki und Sinovjev – bin ich kategorisch gegen ihre Auffassungen und die von ihnen in der Partei eingenommene Haltung. Je mehr ich mich in die Artikel und Dokumente zu diesem Thema hineinlese, umso mehr wundere ich mich, wie die Genossen in eine solche politische Sackgasse geraten konnten.« – »Aber ich habe doch in Berlin wirklich in Gesprächen gehört, dass Du den Ultralinken nahestehst.« – »Das sind Gerüchte ... Ich bin ein anderer geworden. Ich weiß nicht, wann die juristische Diffamierung meiner Person aufhört, aber ich glaube fest, dass ich diese Gitter durchschreiten, wieder an der Bewegung teilnehmen, der Partei nützlich werde sein könne. Und ich bereite mich sorgfältig auf diesen Tag vor, lerne, arbeite an mir, bemühe mich, aus mir einen beherrschten, disziplinierten, einfachen Bolschewik zu machen ...«

Wir reden lange, bis zur Dämmerung, sehr viel, über alles, und der Herr Direktor, der sich an die Seite gesetzt hatte wie ein hochnäsiger Klassenlehrer, vergaß, dass er uns unterbrechen muss. Er lauscht, selbst voller Interesse, unserem ausgedehnten, nach russischer Art endlosen Gespräch über die internationale politische Lage, über die kommenden Wahlen in Deutschland, über Amerika, über den Völkerbund, über dürreresistente Weizenkulturen, über Verjüngung, über die Kriegsgefahr, über neue Theateraufführungen, über die Sibirisch-Turkestanische Eisenbahn, über Boxen, über den Automobilbau in der UdSSR.

Bei jeder Erwähnung des Sowjetlandes wird Hoelz irgendwie strenger, fester, ernster. Irgendetwas richtet sich auf in ihm. Das ironische Funkeln verschwindet aus seinen Augen, macht einem metallischen Schimmer Platz. »Zehn Jahre! Schon sehr bald werden es zehn Jahre! Eben das ist das Beste, Teuerste, das es für mich auf der Welt gibt. Versteh', versuch das wirklich zu verstehen, und dann wirst Du mir glauben: Mein ganzes Leben, jeder meiner Gedanken, jeder Atemzug gehört der Sowjetunion!« Dieser kräftige, sogar äußerlich, dem Aussehen nach, echte Kämpfer, ganz aus stählernen Muskeln gegossen, durch sieben Jahre strenger Einzelhaft nicht im Geringsten gebrochene Mensch ist in diesem Augenblick richtig erregt. »Herr Direktor! Sie haben völlig andere Ansichten als wir beide. Aber auch Sie werden, nicht wahr, nicht leugnen, Sie werden bestätigen, dass die Sowjetmacht für ihre ersten zehn Jahre große, unerhörte Erfolge erzielt hat!« Der Herr Direktor erwacht wie aus dem Schlaf. Er nimmt wieder seine in den Vorschriften festgelegte Haltung an. »Ich bitte Sie, Hoelz, sich zu meinen Ansichten, insbesondere zu allgemeinpolitischen Fragen, nicht zu äußern und darüber nicht zu mutmaßen. Das ist meine Sache und nicht Ihre. Außerdem finde ich, dass sich ihr Stelldichein zu sehr in die Länge gezogen hat.«

Wir verabschieden uns ... »Auf Wiedersehen...« – »Ja, ich hoffe, dass wir uns wiedersehen ...« Der Herr Direktor beobachtet, wie zwei Männer sich dreimal küssen, einander die Hände drücken, einander beim Weggehen lange, zu lange ansehen. Das ist zwischen nahen Verwandten nicht verboten. Die beiden sind nicht verwandt. Aber sie stehen sich offenbar durch irgendetwas sehr nahe ... Als die Schlösser und Gitter wieder klirren, den seltenen Gast hinauslassend, hört man von irgendwo weit her eine junge klangvolle Stimme aus der fünften Zellenetage langgezogen rufen, was die Lunge hergibt: »Es lebe Moskau!«

Übersetzung aus dem Russischen von Erika Segendorf.

Am 16. 9. finden auf dem Schlossplatz in Falkenstein eine Gedenkundgebung und anschließend ein Geschichtsforum im Ratskeller zu Ehren von Hoelz' statt, veranstaltet vom Freundeskreis Max Hoelz; weitere Infos: Peter Giersich, Telefon- und Faxnr.: 03744/8088

Literaturhinweis: Ulla Plener, »Max Hoelz: ›Ich grüße und küsse Dich – Rot Front!‹« (Karl Dietz)

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