Das Spiel mit den Karteileichen

Ehemaliger IKK-Mitarbeiter hofft auf juristische Aufarbeitung einer Kassenfusion

  • Peter Kirschey
  • Lesedauer: 3 Min.
Wenn bei der Innungskrankenkasse von Berlin und Brandenburg (IKK) der Name Walter Retter (Name geändert) fällt, werden sofort die Schotten dicht gemacht. Ein Spinner, der nicht aufhört, den Ruf der Kasse zu schädigen, heißt es da. Auch bei den Behörden, besonders bei der Berliner Justiz, ist Retter nicht besonders gelitten. Wenn der ältere, tadellos gekleidete Herr aus dem Westteil Berlins auftaucht, dann bereitet er denen, die sich mit ihm beschäftigen müssen, sichtliches Unbehagen.

Im August erstattete Retter Strafanzeige gegen die Chefs der IKK Berlin und Brandenburg wegen Untreue. Die handgeschriebenen Briefe deponierte er direkt im Briefkasten der Staatsanwaltschaft Berlin-Moabit, um auch sicher zu gehen, dass sie den Empfänger erreichen. Die Antworten ließen nicht lange auf sich warten: Es existiere kein Anfangsverdacht, also gebe es auch keine Möglichkeit, der Sache nachzugehen, heißt es in der Antwort der Berliner Staatsanwaltschaft, unterschrieben von Oberstaatsanwalt von Hagen. Der von Retter genannte Schaden von 400 Millionen Euro sei eine fiktive Summe. Außerdem, ließ von Hagen weiter mitteilen, würden sich die Vorwürfe auf Vorgänge beziehen, die so lange zurückliegen, dass sie zum Zeitpunkt der Anzeige, also August 2008, der Verjährung unterlägen.

Retter reagierte umgehend: Im September hat er mehrfach seinen Unmut über die Berliner Staatsanwaltschaft in handschriftlichen Beschwerden über die Untätigkeit der obersten Strafverfolgungsbehörde geäußert. Diese landeten im Postkasten der Moabiter Anklagebehörde und bei der Justizverwaltung. Ginge es nach Retter, müsste die Staatsanwaltschaft umgehend von ihren Aufgaben suspendiert werden. Doch die Berliner Justiz und Justizsenatorin Gisela von der Aue sehen keinen Grund, die Generalstaatsanwaltschaft zu feuern. Man habe den Vorgang aber an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet.

Doch alles, was er sagt, klingt plausibel. Und: der Mann ist ein Insider. Retter ist überzeugt, dass kriminelle Machenschaften zum Nachteil der Beitragszahler den Weg der IKK von Berlin und Brandenburg geprägt haben. Seit über einem Jahrzehnt geht nun schon das Spiel, doch Walter Retter will nicht aufgeben. »Wenn das alles rauskommt, wird es ein Erdbeben in der Bundesrepublik geben«, davon ist der ehemalige IKK-Mitarbeiter fest überzeugt. Doch bis heute ist das Erdbeben ausgeblieben.

Die Innungskrankenkassen von Berlin und Brandenburg gerieten wiederholt in die Schlagzeilen. Schon 1999 berichteten die Medien über manipulierte Mitgliederstatistiken bei der Berliner IKK. Dank 5000 Phantommitgliedern in der Kartei hätte sich die Kasse über Jahre kriminell bereichert. Im April 1999 fusionierten die Berliner und die Brandenburger Innungskrankenkasse. Das Pikante: Die Brandenburger IKK verfügte zu diesem Zeitpunkt laut Prüfbericht über einen stattlichen Überschuss von 35,7 Millionen Mark, die Berliner Kasse ging mit einem Defizit von 41,16 Millionen Mark in die Ehe. Aus einer gut ausgestatteten und einer ruinösen wurde eine fusionierte Kasse, die tief in roten Zahlen steckte und Notkredite aufnehmen musste. Das löste eine Kettenreaktion aus. Die Brandenburger IKK setzte ihren Beitragssatz von 13,9 auf 14,5 Prozent herauf, von den einst 190 000 Mitgliedern wechselten etwa 14 000 Mitglieder in andere Kassen. Die Folge waren dramatisch sinkende Einnahmen. Die Brandenburger Handwerker fühlten sich von der Berliner Kasse über den Tisch gezogen.

Die Berlin-Brandenburger Innungskasse verfügt nach eigenen Angaben gegenwärtig über rund 200 000 Mitglieder – so viel, wie die Brandenburger zu guten Zeiten fast allein hatte. Auch die so genannte Kopfpauschale für niedergelassene Ärzte – sie betrug in Brandenburg 400 und in Berlin 600 Mark – geriet zum Mitgliederkiller. Als die fusionierte Kasse den Betrag für die Berliner Ärzte auf den Brandenburger Satz absenken wollte, stoppte das Berliner Sozialgericht im Jahr 2000 das Ansinnen der Kasse. Die hatte mit der Fusion ihren Sitz in Potsdam genommen und sich dort einen 50-Millionen-Mark teuren Neubau geleistet. Aus den einst 700 Mitarbeitern wurden etwa 400. Für Walter Retter, einst Innenrevisor bei der Berliner IKK, der das Geschehen bis heute genauestens verfolgt, sind all die Vorgänge noch nicht juristisch aufgearbeitet. Er hofft immer noch auf die Berliner Staatsanwaltschaft. Die aber wird Retter, so wie es aktuell aussieht, weiter abprallen lassen.

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