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Spannungen unter dem Goldenen Horn

Kandili Observatorium für Erdbebenforschung in Istanbul begeht seinen 140. Geburtstag

  • Filiz Gümüsoglu, Istanbul
  • Lesedauer: 4 Min.

Noch ist Istanbul eine lebendige und anziehende Stadt. Das kann sich jederzeit ändern. Denn 95 Prozent der Türkei sind ständig erdbebengefährdet. Besonders betroffen ist inzwischen die stolze Stadt am Goldenen Horn. Sie wird von gigantischen Reibereien der Kontinentalplatten Euroasiens, Afrikas und Arabiens bedroht.

Die schwere Katastrophe in Izmit war für die Behörden Istanbuls ein Menetekel. Denn die Großstadt mit einer Viertelmillion Einwohner ist keine zwei Autostunden von der Metropole am Bosporus entfernt. Beim Beben vom 17. August 1999 kamen dort mehr als 18 000 Menschen ums Leben. Schlimmer noch: Aus dem Beben zogen die Erdbebenforscher des Kandili Observatoriums in Istanbul die Schlussfolgerung, dass die Beben immer weiter nach Westen wandern. 1939 bebte es weit im Osten der Türkei in der nähe von Erzincan. Jedes weitere starke Beben ereignete sich ein wenig weiter westlich. So errechneten die Wissenschaftler des Kandili Observatoriums für Erdbebenforschung nach dem Izmit-Beben, dass Istanbul in den nächsten 30 Jahren mit einer Wahrscheinlichkeit von 60 Prozent von einem Beben heimgesucht wird – eine wuchernde Riesenstadt mit bereits 18 Millionen Einwohnern. »Aber wann, wo und in welcher Stärke das Beben stattfindet, können wir nicht genau sagen«, sagt Gülay Altay, die Direktorin des Instituts. Im Grunde genommen sei die Vorhersage eines Bebens bloß fünf bis zehn Sekunden vorher möglich. »Deswegen sind wir auch nicht in der Lage, die Bevölkerung rechtzeitig zu warnen«, sagt Altay.

Seit der Katastrophe von 1999 akkumulieren sich also die Spannungen fast unmittelbar unter Istanbul. Nur wenige Kilometer südlich der Stadt verläuft mitten durch das Marmarameer ein Ausläufer der nordanatolischen Verwerfung. Hier könnten sich die Spannungen entladen – und weit mehr Opfer fordern als 1999.

Riskante Schwarzbauten
Die Stadt bereitet sich darauf vor so gut sie kann. »Die Bauvorschriften sind seit dem Izmit-Beben sehr streng«, sagt Altay. »Alle Neubauten müssen erdbebensicher gebaut werden.« Sie selber fühlt sich denn auch fast sicher, weil sie in so einer erdbebensicheren Wohnung lebt. Doch dass nicht alle Häuser in Istanbul so sicher sind, weiß sie. Immerhin hat sie früher als Bauingenieurin gearbeitet. Das Nachrüsten der bestehenden Gebäude sei sehr teuer und gehe deshalb langsam voran. Dennoch könnte man aber den Verantwortlichen nicht vorwerfen, dass sie nichts täten. »Es wird jeden Tag daran gearbeitet, sich auf das Beben vorzubereiten. Nur gibt es in Istanbul noch so viel zu tun«, sagt Altay. Denn die Millionenstadt wächst von Tag zu Tag. Und das meist unkontrolliert. Viele von den Ankömmlingen sind arm und haben kein Geld, um in erdbebensicheren Wohnungen zu wohnen, geschweige denn sie zu bauen. Deswegen ziehen viele von ihnen in illegal errichtete Gebäude, die bei schweren Beben wie Kartenhäuser zusammenstürzen werden. Der Staat konzentriert sich dabei auf jene Gebäude, die im Fall einer Katastrophe besonders dringend gebraucht werden: »Die Stadt rüstet in erster Linie alle Krankenhäuser nach, damit sie dem Beben standhalten«, sagt Altay.

Doch auch die Infrastruktur muss geschützt werden, damit ein starkes Beben nicht zur Katastrophe wird. Mittlerweile seien in der Stadt automatische Systeme installiert worden, die im Fall eines Bebens Gasleitungen schließen, Brückenampeln auf Rot stellen oder Schnellzüge anhalten würden, sagt Altay. Die fünf oder zehn Sekunden, die ein Beben im Voraus angekündigt werden kann, seien dabei bereits wertvoll.

Internationale Kooperation
Doch das bevorstehende Beben von Istanbul berührt die Direktorin des Kandili Observatoriums auch an ihrer Berufsehre: »Meine größte Befürchtung ist nicht das Beben, sondern dass ich im Fall eines Bebens zufällig nicht in Istanbul sein könnte und meine Arbeit nicht machen kann«, sagt sie. Denn jedes schwere Erdbeben sei nicht nur für das betroffene Land, sondern auch für die gesamte Erdbebenforschung ein Wendepunkt – »weil man durch die Daten und Erkenntnisse eines Starkbebens die Frühwarnsysteme verbessern kann«. Deswegen sei auch die Zusammenarbeit mit anderen Forschungsinstituten wichtig. Die anderen betroffenen Länder Europas – Italien und Griechenland –, aber auch Japan und die USA sind dabei zentrale Partner. »Nur durch den ständigen Datenaustausch können sich die erdbebengefährdeten Gebiete besser auf ein Beben vorbereiten«, sagt Altay.

Bereits 1776 erschütterte ein schweres Erdbeben die Metropole am Bosporus. Nur lebten damals noch nicht so viele Menschen in Istanbul. Weil aber immer wieder die Erde in der Türkei bebte, interessierte man sich früh wissenschaftlich für die Erdstöße. Das Kandili Observatorium wurde bereits 1868 gegründet, feiert also in diesem Jahr seinen 140. Geburtstag. 1890 veröffentlichte es seine ersten Messergebnisse. Seit 1983 gehört es zur Bogazici Universität Istanbul.

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