Erziehung der Gefühle

Sabahattin Ali und seine »Madonna im Pelzmantel«

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 3 Min.

»… zu leben und zu wissen, dass man bewusster und intensiver lebte als alle anderen; zu leben, indem man die Fülle eines ganzen Lebens in einen Augenblick komprimierte …«

Wie ein junger Mann sich verändert, der erfolglos auf Arbeitssuche ist, welche Kluft sich auftut, zwischen ihm und seinen erfolgreichen Freunden – gleich auf den ersten Seiten wirkt das Buch so heutig, so hiesig, dass man nicht nur über den türkischen Schriftsteller staunt, der es 1940/41 geschrieben hat, sondern gleichsam auch über die eigene Wahrnehmung. Denn was uns erschreckt, weil wir es nicht gewohnt waren, ist schon lange das Übliche. Sofern es sich um kapitalistische Verhältnisse handelt, gibt es zwischen Ankara und Berlin weniger Unterschiede, als man denkt. Die Auswirkungen auf die Menschen sind ähnlich. Immer wieder und überall finden sich Außenseiterexistenzen wie Sabahattin Ali, die das aus der Distanz durchschauen.

Er gilt als Klassiker der türkischen Literatur. 1906 geboren, hat er in Berlin und Potsdam studiert, danach in der Türkei Deutsch gelehrt. Wegen eines satirischen Gedichts über Atatürk kam er ins Gefängnis. Auf seiner Flucht ins Exil wurde er am 2. April 1948 an der bulgarischen Grenze umgebracht. Ein Raubmord, hieß es offiziell.

Der Zauber dieses Buches liegt in seiner Person. In der Fähigkeit zu überdeutlicher Wahrnehmung seiner Umwelt bei gleichzeitiger Verrätselung seiner selbst. Letztere ist auch gewollt. Ali legt Spuren und verwischt sie zugleich. Mit stiller Raffinesse zieht er uns in eine Liebesgeschichte hinein, die aufwühlt und befremdet, weil sie so gar nicht alltäglich ist.

Ich dachte gleich an Flauberts »Erziehung der Gefühle«. Daran, wie Flaubert seinen Roman in einem Brief an George Sand erklärte, die ihn nicht verstand. »Die romantische Liebe, die ich in der Bovary verhöhnt und weggejagt habe, aus Härte gegen mich selbst, nun soll sie zurückkehren, tiefernst und unbesieglich«, so schrieb er. »Ich will schwelgen; aber niemand darf es merken.« Und resümiert: »Es wird das Buch der Enttäuschungen sein, worin trotz vielem Hin und Her nichts geschieht, nichts je ans Ende gelangt, nur aus Fließen Sickern wird –, und kein schmerzlicheres wird geschrieben worden sein … Wird man's verstehen?«

Sabahattin Ali hat sich zur Tarnung sozusagen »dreigeteilt«: in zwei Männer und eine Frau. Eingangs erwähnter junger Mann findet eine Arbeit und kommt zu einem älteren Übersetzer ins Büro. Dieser, Raif Efendi, ein unscheinbarer, in sich gekehrter Mann, weckt zunehmend das Interesse des Jungen. Auf seinem Sterbebett hinterlässt er ihm ein Heft mit seinen Erinnerungen. Diese führen ins Berlin der 20er Jahre, wo, wie gesagt, auch der Autor zeitweilig lebte. Hat vielleicht auch er eine Frau wie Maria Puder getroffen? Die »Madonna im Pelzmantel« ist Malerin, sensibel, selbstbewusst und spröde. Eine Frau, die den jungen Raif anzieht und wegstößt, die ihm lediglich Freundschaft verspricht, weil sie glaubt, nicht lieben zu können …

Das ist so genau beschrieben, dass ich glaubte, diese Frau zu kennen. Ebenso wie ihren Freund Reif. Miteinander zelebrieren sie eine Liebe, die umso erregender ist, weil sie sich kaum verwirklicht. Reif Efendi beginnt seine Aufzeichnungen am 20. Juni 1933, als seine Zeit mit Maria in Berlin schon zehn Jahre zurücklag. Maria war Jüdin … Doch über die Verwicklungen der Handlung soll hier nicht mehr verraten werden. Sie ist so, dass man schnell immer weiter lesen möchte, aber immer wieder unterbrechen muss, um eine Formulierung, eine Beobachtung des Autors in sich wirken zu lassen.

Sabahattin Ali: Die Madonna im Pelzmantel. Roman. Aus dem Türkischen von Ute Birgi-Knellessen. Dörlemann Verlag. 252 S., geb., 19,80 EUR.

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