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Das Problem der Glaubwürdigkeit

  • Rudolf Dreßler
  • Lesedauer: 4 Min.

Die deutsche Sozialdemokratie steht vor einem Bundesparteitag »sui generis«. Dieser Parteitag der »besonderen Art« muss einen neuen Vorsitzenden wählen, weil der bisherige weggemobbt wurde. Jene, die ihn zur Aufgabe gezwungen haben, wollen selbst die Führung übernehmen. Das wäre auch durch eine Gegenkandidatur möglich gewesen. So offen, so klar sollte es denn doch nicht ablaufen. Die Art und Weise des Vorgehens wird die neue Führung der SPD – unabhängig von der Frage, ob sie sich vorher darüber klar war – vor grundlegende Probleme stellen. An erster Stelle sehe ich das Glaubwürdigkeitsproblem.

Der neue SPD-Vorsitzende wird erklären müssen, ob seine bekannte »Weiter-so-Politik«, die der ehemaligen Volkspartei SPD eine Zustimmungsquote in den Umfragen von plus/minus 25 Prozent eingebracht hat, fortgeführt werden soll. Er war maßgeblich daran beteiligt, das Vertrauen in die gesetzliche Rente zu stören. Seine Propaganda für die private Vorsorge ist unvergessen. Fast im Alleingang hat er der SPD das Renteneintrittsalter 67 Jahre aufgedrückt. Ohne soziale Flankierung für jene, die vorher »kaputtgeschrieben« wurden.

Es spricht sich immer mehr herum, dass heute nur noch eine zu vernachlässigende Minderheit bis zum 65. Lebensjahr arbeitet, arbeiten kann, arbeiten darf. Den rentennahen Jahrgängen wird zunehmend klar: Wenn sie mit 65 Jahren oder früher nicht mehr können oder dürfen, wird eine Rentenkürzung von 7,2 Prozent fällig.

Die geneigten Wählerinnen und Wähler – in Sonderheit jene, die aus gesellschaftspolitischer Überzeugung früher sozialdemokratisch gewählt haben – wollen wissen, ob der neue SPD-Vorsitzende Müntefering da weiter macht, wo der frühere SPD-Vorsitzende, Vizekanzler und Sozialminister Müntefering aufgehört hat.

Der neue SPD-Vorsitzende wird erkennen müssen, dass die breite Diskussion und Zustimmung in der hessischen SPD über Möglichkeiten einer Zusammenarbeit mit der Partei DIE LINKE sich wohltuend von seiner eigenen Nominierung in einer winzigen Herrenrunde unterscheidet. Er wird das Votum der Herrenrunde – durch einen Parteitag bestätigt – als große Zustimmung empfinden.

Wird er der hessischen SPD-Vorsitzenden Ypsilanti zugestehen, dass ihr Zustimmungsvotum durch viele Regionalkonferenzen und durch einen Landesparteitag mindestens die gleiche Qualität hat? Sagt der neue SPD-Vorsitzende das vor der Entscheidung des hessischen Landtages oder erst nach der Wahl von Frau Ypsilanti, wenn es unvermeidbar geworden ist?

Der neue SPD-Vorsitzende hat mit Anderen eine Wand nach links errichtet. Es ist seine Aufgabe, diese selbst gebaute Wand abzutragen. Wenn er sich verweigert, bleibt ihm nur die Option Große Koalition. Die Anhänger dieses Modells mögen in Zeiten einer Weltfinanzkrise gewachsen sein, bis zur Bundestagswahl ist diese Krise behoben. Die Auswirkungen werden gleichwohl noch spürbar sein. Die Anhängerschaft im sozialdemokratischen Spektrum der Wahlbevölkerung für eine Fortsetzung der Großen Koalition wird überschaubar. So überschaubar, dass Umfrageprozente und reale Wahlprozente für die SPD in eine gefährliche Nähe rücken.

Wer in der SPD-Führungsetage glaubt ernsthaft an eine Strahlkraft dieser Option? Natürlich niemand, der ernst genommen werden will. Also ist der Analogieschluss erlaubt: Es ist der Führung egal. Höflicher formuliert: Lieber in einer Großen Koalition kleiner Partner, als den Bundeskanzler zu stellen mit Unterstützung der Partei DIE LINKE.

Wenn die Wahlbevölkerung diese SPD in die Opposition schickt, wäre das übrigens auch eine demokratische Entscheidung.

Nun liest und hört man aus konservativen SPD-Kreisen, dass der neue Vorsitzende in den aktuellen Meinungsumfragen außerordentlich gut bewertet wird, obwohl er noch gar nicht gewählt ist. Ein Blick in den Umfragetext macht nachdenklich, und das in mehrfacher Hinsicht. 62 Prozent aller Befragten sind »mit der politischen Arbeit von Franz Müntefering zufrieden«; sogar 74 Prozent SPD-Wähler und erstaunliche 69 Prozent Union-Wähler.

Nachdenklich macht, dass solch hohe Zufriedenheit mit einer Arbeit besteht, die gar nicht stattgefunden hat. Denn Müntefering hatte eine längere Auszeit. Dass unter solchen Umständen die politische Satire ermuntert werden könnte, den Umkehrschluss zu formulieren, macht es auch nicht besser: »Hoffentlich gehen die Umfragewerte nicht in den Keller, wenn er wieder arbeitet.«

Der Autor, Jahrgang 1940, ist seit 39 Jahren Mitglied der SPD. Er war Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Vorsitzender der sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen und von 1980 bis 2000 Bundestagsabgeordneter. Von 2000 bis 2005 war Rudolf Dreßler deutscher Botschafter in Israel.

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